Theodor Eschenburg: Streit um den „Gründervater“ der westdeutschen Politikwissenschaft

22. Januar 2014

„Der innere Widerstand gegen ein totalitäres Regime verlangte eben besondere Verhaltensweisen, die man nicht isoliert betrachten darf.“ Über welche Person wird hier gesprochen, und von wem? Der Satz findet sich in einem Artikel des renommierten Professors Theodor Eschenburg (1904–1999) in der ZEIT vom 10. März 1961 über – Hans Globke, unter Hitler Mitverfasser der „Nürnberger Gesetze“ und deren Kommentator, unter Adenauer Staatsekretär im Bundeskanzleramt. Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) schaffte jetzt ihren nach Eschenburg benannten Preis ab. Daraufhin traten drei ihrer früheren Vorsitzenden aus ihr aus. Das einleitende Zitat wirft die Frage auf, warum die Abschaffung des Preises überhaupt kritisiert werden und über sie Streit in den bürgerlichen Medien aufkommen konnte.

Die crème de la crème der (west-)deutschen Politikwissenschaft saß im Auditorium, viele Eschenburg-Schüler darunter, der Rektor und zahlreiche Professoren der Tübinger Universität, dazu die Tochter Eschenburgs, als Claus Offe, der den Preis gerade erhalten hatte, anregte, ihn umzubenennen. Der Skandal war da. Offe warf dem – angeblichen oder tatsächlichen – Gründervater der westdeutschen Politikwissenschaft eine „‚institutionenpflegerische‘ politische Publizistik“ vor, „die Achtung staatlicher Autorität volkspädagogisch anmahnt“. Und an der Person Eschenburgs kritisierte er, dieser habe sich nicht mit seiner eigenen Rolle während der Nazi-Zeit beschäftigt, sondern sich vielmehr „in diversen publizistischen Lobpreisungen von Hans Globke“ ergangen.

Eschenburg, SS-Mitglied seit 1934, angeblich bald darauf wieder ausgetreten, war während des Faschismus als Rechtsanwalt Berater verschiedener wirtschaftlicher Interessenverbände, er war Geschäftsführer zweier Fachgruppen von Wirtschaftsverbänden, und er war Leiter zweier Prüfungsstellen der „Reichsgruppe Industrie“. Ihm konnte die Beteiligung an einem Arisierungsverfahren in der Kunststoffbranche nachgewiesen werden. In dem betreffenden Verfahren hatte er offenbar zwar keine Entscheidungskompetenz. Aber seine Empfehlungen waren so formuliert, dass der jüdische Industrielle Wilhelm Fischbein um sein Leben fürchten musste: Der Fabrikant sei dabei, sich „unter Benutzung deutscher Devisen … im Ausland eine neue Existenzbasis zu schaffen.“ Der Vorwurf hätte Fischbein vor den Volksgerichtshof bringen können, wo ihm die Todesstrafe gedroht hätte. Doch Fischbein hatte Glück; trotz Passentzugs gelang ihm die Flucht nach England.

Der Politikwissenschaftler Rainer Eisfeld, der 2011 die Beteiligung Eschenburgs an dem Arisierungsverfahren öffentlich machte, urteilte kürzlich: „Eschenburgs Verhalten illustriert die Beflissenheit (…) jener konservativen Bürokratie, die sich dem NS-Regime andiente und zu seinem Funktionieren wesentlich beitrug. Antisemitismus war dazu nicht erforderlich. Die ‚Anfälligkeit‘ eines Denkens genügte, das staatliche Führung überhöhte, Demokratie jedoch relativierte.“

Und in der Tat: Eschenburg hatte auch während des Faschismus Umgang mit jüdischen Freunden und Kollegen. Das legte Hans-Joachim Lang, Redakteur des „Schwäbischen Tagblatts“ in Tübingen, in mehreren Artikeln dar. Er versuchte, Eschenburg durch Aufzählung seiner jüdischen Freunde und Kollegen zu rehabilitieren – und durch Diskreditierung Eisfelds und anderer kritischer Wissenschaftler/-innen. Aber der Versuch mißlang. Denn Eschenburgs Beteiligung an dem Arisierungsverfahren lässt sich nicht bestreiten. Und sein Rechtsextremismus noch während seiner Studentenzeit und sein – bis zu seinem Tode – autoritäres Staatsverständnis auch nicht.

Emil Julius Gumbel, Mathematiker und Statistiker, war einer der mutigsten Männer in der Weimarer Republik. Er prangerte Kriegsverherrlichung und Fememorde der Rechten an, nannte Ross und Reiter. Kaum jemand war auf der Rechten so verhasst wie er. 1925 wurde er zu einem Vortrag nach Tübingen eingeladen. Die studentischen Korporationen schäumten. Eschenburg, Vorsitzender des „aggressiv nationalistischen, antisemitischen“ (Eisfeld) „Hochschulring deutscher Art“, zeichnete für einen öffentlich plakatierten Aufruf verantwortlich. Zitat: „Nach der allg. Verurteilung seiner Rede an der Universität Heidelberg bedeutet sein Vortrag hier eine starke Beleidigung eines jeden teutschen Studenten. Wir erwarten auf das Bestimmteste, dass Herr Dr. Gumbel von seinem Vorhaben absieht.“ Die Korporierten versuchten, das Lokal, in dem Gumbel sprach, zu stürmen. Reichsbannerangehörige und andere Bürger schützen die Gaststätte. Die „Lustnauer Schlacht“ hatte etliche Verletzte zur Folge. Hinterher meinte Eschenburgs Verbindung, die Burschenschaft „Germania“: „Wer in ‚ehr- und würdeloser Weise‘ das deutsche Volk und seine Gefallenen beleidige, der habe sein Recht zu öffentlichem Auftreten verwirkt.“

Nach dem Studium geriet Eschenburg in den Dunstkreis des damaligen Reichsaußenministers Gustav Stresemann und wurde sein Mitarbeiter. Dessen staatskonservative Haltung sagte ihm zu. Aus dem Umfeld Stresemanns ist ein Eschenburg-Zitat aus der damaligen Zeit überliefert. „Wir haßten [die Republik] nicht, sondern wir verachteten sie… Wir jubelten im November 1923 Hitler zu. Wir erhofften alles von der Macht der Generale…“ (Antonina Vallentin) Die Luxemburger Historikerin Anne Rohstock resümiert: „Wann und ob aus Theodor Eschenburg (…) tatsächlich der ‚Vernunftrepublikaner‘ wurde, als der er sich später darstellte, kann zwar aufgrund des bislang bekannten Materials nicht zweifelsfrei geklärt werden.“ Und dann setzt sie hinzu: „Tatsache ist aber, dass Eschenburg nach 1945 tatsächlich zur Demokratie gefunden hat.“ Die letztere Wertung ist zu problematisieren.

1969 verursachte Eschenburg, seit 1952 Professor für Politikwissenschaft in Tübingen und als regelmäßiger ZEIT-Kommentator dem bürgerlichen Publikum wohlbekannt, einen veritablen Skandal. In einem Vortrag in Heilbronn erklärte er, Demokratie ende von Zeit zu Zeit in einer „Finanzsauerei“, die nur durch eine „Diktatur auf Zeit“ aus der Welt geschafft werden könne. In Nr. 8/1969 befragte ihn dazu der SPIEGEL. Eschenburg: „Gemeint war folgendes: In der Demokratie sind die Parteien abhängig von periodisch wiederkehrenden Wahlen. Dadurch werden sie zu populären Maßnahmen gedrängt, die unter Umständen das Staatsganze belasten, oder zur Unterlassung von unpopulären Maßnahmen, die notwendig sind. So entsteht gleichsam eine Schuttanhäufung, eine Reformstagnation. Deshalb, so habe ich gesagt, bräuchte die Demokratie in Abständen eine Diktatur auf Zeit, um den Schutt zu beseitigen. Man könnte von einer Aufräumungsdiktatur sprechen. Aber die, so habe ich gesagt, kann es nicht geben.“ Eschenburg forderte eine Revision des Grundgesetzes. Frage des SPIEGEL: „Welche Entwicklungen hätte, im Prinzip, der neue Grundrechtskatalog zu berücksichtigen?“ Antwort Eschenburg: „Vor allem: Unsere Grundrechte sind, mit ganz wenigen Ausnahmen, gegen den Staat gerichtet. Die Bedrohung kommt heute jedoch weitaus häufiger aus der Gesellschaft.“ Frage: „Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?“ Antwort: „Hören Sie mal, ich bin mir gar nicht so sicher, ob diese massiven Störungen, die wir an den Universitäten erleben, mit dem Demonstrationsrecht noch gedeckt werden können. Der Verfassungsgeber und auch der Gesetzgeber haben kaum an solche Fälle gedacht!“

Besser als alle Zitate aus seinen wissenschaftlichen Werken und aus seinen Artikeln für die ZEIT illustriert dieses Interview die Grundhaltung Eschenburgs nach 1945: Dem Staat gilt seine Sorge. Davon zeugen auch Eschenburgs Buchtitel wie „Institutionelle Sorgen in der Bundesrepublik“ und „Über Autorität“ oder auch solche von Texten über ihn: „Stilkritik aus der Sorge um die Institutionen“. Besonders wichtig war ihm das Funktionieren des Beamtentums. Das stellte er in seinem Kommentar zu Globke 1961 besonders heraus, den er als loyalen und tüchtigen Beamten lobte.

Sowohl in seinem Globke-Text als auch in seinem Versuch, die Beamten des Auswärtigen Amtes zu rehabilitieren, indem er in der ZEIT auf unsägliche Weise das erste Buch über die Diplomaten Hitlers (Döscher 1987) verriss, ließ er eine gewisse Nähe zu den betreffenden Beamten erkennen. Zitat: „Döscher, 1943 geboren, kann aus eigenem Erleben das damalige ‚Ambiente‘ nicht kennen und hat es historisch nicht erfaßt.“ Globke kannte er sogar persönlich; er gibt an, ihn 1937 zum ersten Mal getroffen zu haben. Ihm sei schon damals „Globkes Bestreben, ‚Schlimmeres zu verhüten‘“, klargeworden.

Als die DVPW 2003 ihren Preis nach Eschenburg benannte, war seine Beteiligung an einem Arisierungsverfahren zwar noch nicht bekannt; aber man kannte seine Publizistik und seine politische Ausrichtung. Die Benennung des Preises kann also kein Versehen gewesen sein. Jetzt gilt es, nicht nur über Eschenburgs Rolle im Faschismus und sein Verschweigen derselben nach 1945 zu diskutieren, sondern auch über seine Art der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) im Kontext der alten Bundesrepublik – und über sein Demokratieverständnis.

Jens Rüggeberg (aus: Antifa-Nachrichten, Dezember 2013)