Presseerklärung zur aktuellen Planung für das Güterbahnhof-Areal in Tübingen

13. November 2014


  • Nachtrag aus aktuellem Anlass: Die Frist für Stellungnahmen zum Bebauungsplan „Güterbahnhof“ wurde bis zum 5. Dezember 2014 verlängert! Bitte dazu die Web-Links am Ende des Beitrags beachten.


  • Eine „nationalsozialistische Gedenkstätte“? Nein, eine Ausstellung von Hitlerbildern will die Stadt Tübingen im Gebäude ihres ehemaligen Güterbahnhofs gewiss nicht einrichten. So steht es aber in den Vorlagen für einen Bebauungsplan, der bis zum 21. November im Technischen Rathaus ausliegt und im Internet abrufbar ist, damit die interessierte Öffentlichkeit Stellung nehmen kann.

    Was nicht ausliegt, ist die amtliche Begründung, warum es sich um ein geschütztes Denkmal handelt. Die Denkmalsverfügung, schon viereinhalb Jahre alt, wurde bei der ersten Auslegung des Bebauungsplans im Januar 2013 nicht einmal erwähnt. Aus „wissenschaftlichen (wirtschafts- und architekturhistorischen sowie bautypologischen) und heimatgeschichtlichen Gründen“ ist der gesamte Güterbahnhof einschließlich des erhaltenen Bahnsteigs ein Kulturdenkmal. An seiner Erhaltung besteht – so die Denkmalschutzbehörde – wegen seines exemplarischen und dokumentarischen Wertes ein öffentliches Interesse. Das bezieht sich nicht nur allgemein auf seine Rolle für die Industriegeschichte. Während des Zweiten Weltkriegs waren „russische Kriegsgefangene regelmäßig zum Be- und Entladen vom Güterzügen eingesetzt.“ In einem entsprechenden damaligen Merkblatt hieß es, ihre Bewachung verlange „angesichts der Heimtücke und politischen Einstellung … eine besondere Sorgfalt und Strenge“. Ihre Arbeitsgruppen müssten „ständig unter der Aufsicht von mindestens 2 Wachmännern stehen“ die ihre Aufstellung so zu wählen hätten, „dass sie die Gefangenen, wenn möglich aus überhöhtem Standpunkt, stets im Auge haben. Beim geringsten Versuch tätlichen Widerstandes ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“ Nicht nur dieser Beobachtungsstand, sondern das gesamte Ensemble ist bisher noch vollständig erhalten.

    Die Denkmalsbegründung ist unserer Presseerklärung beigefügt. Denn wir meinen, sie ist von aktuellem öffentlichem Interesse und wurde bisher zu oft verschwiegen.

    Der jetzige Eigentümer lässt das schützenswerte Kulturdenkmal verkommen. Die staatseigene Deutsche Bahn „privatisierte“ ihr aufgegebenes Gelände über eine ursprünglich von ihr selbst gegründete Firma. Aurelis gehört heute zur Hälfte einem obskuren Hedgefonds auf den Cayman Islands. Diese Firma scheint massiven Druck auf die Stadt Tübingen auszuüben, die aus dem ehemaligen Bahngelände ein Wohngebiet machen will. Der Güterbahnhof soll weg, zumindest teilweise abgerissen werden und damit seine Denkmaleigenschaft verlieren. Andernfalls – heißt es – werde jede städtebauliche Entwicklung des Geländes blockiert werden.

    Der jetzt ausgelegte Bebauungsplan enthält verklausuliert die Bereitschaft der Stadt, dieser Erpressung der Hegdefonds-Investoren nachzugeben. Ein Abriss von 20 % des erhaltenen Gebäudes sowie des erhaltenen Bahnsteigs wäre damit festgeschrieben, der Weg zur „Entdenkmalisierung“ frei. Für die weitere Nutzung gibt es keine Garantien, nur unverbindliche Absichtserklärungen mit vielen angekündigten „Varianten“. Nicht nur die oben zitierte Wortwahl zeugt nach unserer Auffassung für fehlende Sensibilität für den besonderen historischen Charakter des Ensembles. Es muss nach Auffassung der VVN-BdA in Gänze erhalten und einer seiner Geschichte entsprechenden Nutzung zugeführt werden. Das muss der Ausgangspunkt jeder weiteren Planung sein. Vielleicht lassen sich mit Neubauten und „Gastronomie“ höhere Renditen erzielen als mit einem Denkmal und einer Lern- und Gedenkstätte. Das darf nach unserer Meinung nicht den Ausschlag geben.

    Die VVN-BdA ermutigt alle Interessierten, sich über diesen Bebauungsplan zu informieren (Internet oder Technisches Rathaus, 1. OG, Brunnenstraße 3, 72074 Tübingen) und bis zum 21. November bei der Stadt Tübingen eine Stellungnahme einzureichen. Diese Möglichkeit steht ausdrücklich allen Personen und Vereinigungen offen, nicht nur den unmittelbar von der Planung Betroffenen.

    Ausgelegte Unterlagen zum Güterbahnhof-Areal:

    http://www.tuebingen.de/561.html#1824.8011

    Broschüre zum Ablauf:

    http://www.tuebingen.de/Dateien/broschuere_bebauungsplanverfahren.pdf

    Weitere Hintergrundinformationen:

    https://zukuenftige-nachbarschaft-gueterbahnhof.mtmedia.org/



     


    Wortlaut der Denkmalsbegründung

    REGIERUNGSPRÄSIDIUM TÜBINGEN
    Referat Denkmalpflege

    Liste der Kulturdenkmale in Baden-Württemberg Teil A1
    Begründung der Denkmaleigenschaft gemäß §2 DSchG

    Regierungsbezirk: Tübingen
    Kreis: Tübingen
    Gemeinde: Stadt Tübingen
    Ortsteil: Tübingen-Stadt
    Wohnplatz/Gewann: –
    Straße/Hausnr.: Eisenbahnstraße 21
    Flurstück Nr.: 6321, 6321/9
    Objekt/Schutzgut: Güterhalle mit Verwaltungsgebäude und freistehendem, überdachtem Umladebahnsteig
    Stand: 22.10.2010
    Bearbeiter: Kraume-Probst, Ruhland
    Az: 26- Ke, Ru

    Das Hauptgebäude des Tübinger Güterbahnhofs vereinigt die Lagerhalle mit einem Trakt für die Verwaltung. Es entstand 1910-1912 nach Plänen von Carl Bosch. Der Bahnarchitekt hatte den Verwaltungstrakt als zweigeschossigen verputzten Bauteil mit Schindelschirm im Obergeschoss und Giebel entworfen, sowie mit einem westlich anschließenden, eingeschossigen Vorbau, dessen Dach abgewalmt ist. Am eigentlichen Güterschuppen, einer fensterlosen, mit Brettern verkleideten Halle, sorgen Oberlichter auf dem flachen Satteldach für Beleuchtung. Parallel zur Nordseite des Gebäudes verläuft der Umladebahnsteig mit hölzerner Verdachung.

    Obwohl er ursprünglich nur Büroräume enthielt, erinnert das Äußere des Verwaltungstrakts an den Wohnhausbau der damaligen Zeit. Für die Fassadengestaltung hatte man sich an den architektonischen Merkmalen des sogenannten Heimatstils orientiert, dessen funktionale Baukörper und einfachen Schmuckformen als Reaktion auf den ornamentreichen, malerischen Baustil der Jahrhundertwende verstanden werden können. Zu den beliebten Architekturmotiven der Erbauungszeit gehören auch  der nahtlose Übergang des steilen Satteldachs in das Walmdach des westlichen Vorbaus. Diese Außengestaltung läßt im Übrigen keine Schlüsse auf das Innere zu, da sich Büroräume und Erschließungswege unabhängig von den scheinbar vorgegebenen Gebäudegrenzen des Satteldachhauses erstrecken und noch bis unter das Dach der Lagerhalle reichen. Hier blieb als bemerkenswerter Teil der einstigen Ausstattung das helle Treppenhaus unter dem ersten Oberlicht erhalten. (Der nordwestliche Anbau wurde später hinzugefügt.)

    Wichtigster Bauteil ist die lang gestreckte und breite hölzerne Lagerhalle mit ihren unverändert überlieferten gläsernen Oberlichtern, die sich raupenförmig quer über den Dachfirst ziehen. Die zweischiffige Aufteilung der Halle beruht auf einer Holzkonstruktion mit jeweils zwei Hängewerken pro Gebinde und entspricht damit einer für die Erbauungszeit gängigen Form. Bis in die Details hat sich die Ausstattung des Güterschuppens weitgehend erhalten. Der zeitgenössischen Literatur zufolge sollten etwa an den Mittelstützen der Hallenkonstruktion Hinweisschilder angebracht werden (hier erhalten: „Versand=Abteilung“). Die großen Schiebetüren für den reibungslosen Zu- und Abgang von beiden Längsseiten des Schuppens gehören ebenso zur ursprünglichen Gestaltung wie der weite Dachüberstand sowohl an der Straßen- als auch an der Gleisseite, der Lagerarbeiter und Güter vor der Witterung schützen sollte. Aus demselben Grund wurde auch der Umladebahnsteig mit einem Dach versehen, einer Holzkonstruktion, die mehrfach, zuletzt 1919, verlängert wurde. Das Untergeschoss des Güterbahnhof-Gebäudes diente ebenfalls Lagerzwecken, ist aber ganz anders konstruiert: eine gedrungen wirkende dreischiffige Halle aus Eisenbeton – damals noch eine relativ neue Bauweise, die sich aber gerade für große Lagergebäude und Hallen rasch durchsetzte.

    Wohl vor oder während des Zweiten Weltkriegs (Pläne sind bezeichnenderweise nicht überliefert) kam es zu einem bemerkenswerten Umbau: In die hölzerne Lagerhalle wurden drei Brandwände eingezogen, eine zum Verwaltungsgebäude hin, eine an die gegenüberliegende Kopfseite und eine dritte etwa in der Mitte der Halle. Hier baute man einen erhöhten Beobachtungsstand ein, dessen schießschartenartigen Öffnungen mit einem eisernen Schieber geschlossen werden können. Auf beiden Seiten der Wand steht in schwarzer Schrift auf rot umrandetem Feld: „Dieser Platz ist im Abstand von 1,2 m um den Beobachtungsstand freizuhalten.“

    Dokumente aus dem Tübinger Stadtarchiv lassen den Schluss zu, dass es sich hierbei um einen Beobachtungsstand zur Überwachung von Zwangsarbeit handelt:
    Zahlreiche Tübinger Betriebe waren mit der Produktion von wichtigen Rüstungsgütern beschäftigt, darunter ausgelagerte Betriebsteile von Mercedes, das Himmelwerk und das Montanwerk.
    Nach den Unterlagen des Stadtarchivs waren russische Kriegsgefangene regelmäßig zum Be- und Entladen vom Güterzügen eingesetzt. So wurde zum Beispiel dem Tübinger Gemeinderat in seiner Sitzung vom 14. September 1942 (§96) ‚über die Einrichtung der von Reichsmarschall Göring befohlenen Entladekolonnen in Tübingen’ berichtet. ‚Nach langen und schwierigen Verhandlungen sei es gelungen, eine Entladekolonne bestehend aus 30 sowj[et]russ[ischen]. Kriegsgefangenen, hierher nach Tübingen zu bekommen.’ In einem ‚Merkblatt für die Bewachung der russischen Kriegsgefangenen’ (A150/5160) heißt es unter anderem, dass deren Bewachung ‚angesichts der Heimtücke und politischen Einstellung… eine besondere Sorgfalt und Strenge“ verlange. Sie dürften „nur in größeren, geschlossenen Gruppen zum Einsatz kommen’. Und weiter: ‚Die Arbeitsgruppen müssen ständig unter der Aufsicht von mindestens 2 Wa[ch]m[ännern]. stehen. Die Wa[ch]m[änner]. haben ihre Aufstellung so zu wählen, dass sie die Gef[angenen], wenn möglich aus überhöhtem Standpunkt, stets im Auge haben. Beim geringsten Versuch tätlichen Widerstandes ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.’

    Tatsächlich hat der Beobachtungsstand – wie im Merkblatt gefordert – eine erhöhte Position und ist für zwei Wachmänner ausgelegt. Die Ausführung seiner beiden Öffnungen legen nahe, dass von hier aus geschossen werden konnte.“ (Freundliche Mitteilung Stadtarchivar Udo Rauch)

    Die Tübinger Güterhalle mit Verwaltungsgebäude und überdachtem Umladebahnsteig ist trotz kleineren Umbauten am Verwaltungstrakt ein sehr gut überliefertes Beispiel für diese Bauaufgabe, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zahlreichen mittleren und großen Städten die Einrichtungen für den Güterverkehr auf der Schiene wegen des immer stärker wachsenden Warenaufkommens neu geregelt wurden. Daher, vor allem aber wegen des erhaltenen Beobachtungsstands, der an die russischen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs in Tübingen erinnert, ist es ein Kulturdenkmal aus wissenschaftlichen (wirtschafts- und architekturhistorischen sowie bautypologischen) und heimatgeschichtlichen Gründen. An seiner Erhaltung besteht wegen seines exemplarischen und dokumentarischen Wertes ein öffentliches Interesse.



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