Rede zum Tag der Befreiung 08.MAI 2010
9. Mai 2010
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, liebe Tübingerinnen und Tübinger!
Als Tag der Befreiung wird der heutige 8. Mai in vielen Ländern begangen.
Ende April 1945 mussten die Häftlinge des Zuchthauses in Ludwigsburg im Hof antreten, unter ihnen viele politische Häftlinge, die wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“, wie der Widerstand gegen die Nazis genannt wurde, zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren.
Nach einem Fußmarsch hatten die Häftlinge die Güterwagen eines Zugs zu besteigen, der sie in das Konzentrationslager Mauthausen in Österreich bringen sollte. Welches Schicksal ihnen zugedacht war, das ist klar. In Donauwörth kam der Zug zum Stehen. Die Eisenbahnbrücke über die Donau war von den alliierten Tieffliegern zerstört worden. Die Häftlinge wurden in ein Zuchthaus in der Nähe gebracht. Dort wurden die politischen Häftlinge nach der Einnahme des Ortes durch die US-Armee entlassen.
Das war die Geschichte der Befreiung meines Vaters Curt Letsche. Ohne diese Befreiung gäbe es mich nicht. Ich wurde ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Curt gehörte dann 1947 zu den Begründern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes hier in Tübingen. Er war bis zu seinem Tod im Februar 2010 in seiner neuen Heimat Jena Mitglied der VVN-Bund der Antifaschisten. In den 1980er Jahren ist er hier in Tübingen mehrfach aufgetreten.
Nicht allen in unserem Land geht der „Tag der Befreiung“ so leicht über die Lippen. In der alten Bundesrepublik dauerte es immerhin bis 1985, bis ein Bundespräsident das schaffte.
Nicht allen seinen Nachfolgern traue ich zu, dass sie das wirklich begriffen haben.
Am 8.Mai 1945 um 23:01 Uhr trat die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands in Kraft. Dieser Tag markiert den gemeinsamen Sieg der Armeen der Antihitlerkoalition, also damals der Armeen von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Sie hatten diesen Sieg gemeinsam errungen mit den Partisanen in den besetzten Ländern und natürlich auch den deutschen Antifaschisten, die unter Einsatz ihres Lebens im Inneren des Landes und an verschiedenen Fronten gegen diesen Krieg und später gegen seine Fortsetzung gekämpft hatten.
Es ist eine Tatsache, und es schmälert niemandes Beitrag in diesem Kampf, wenn ich festhalte, dass den größten Beitrag dazu die Sowjetunion geleistet hat. Sie verlor dabei 27 Millionen Menschen. Auch heute heißt eine U-Bahn-Station mitten in der Hauptstadt eines NATO-Landes, nämlich in Paris, „Stalingrad“, um daran zu erinnern, wo die Kriegsmaschine der deutschen Faschisten zum Stehen gekommen und wo ihr das Genick gebrochen worden ist. Die Franzosen wissen sehr gut, dass es die zweite Front, die ab dem 6. Juni 1944 ihr Land befreite, nicht gegeben hätte, wenn sich die Sowjetarmee nicht zu jener Zeit bereits auf die deutsche Grenze zu bewegt hätte.
Ja, für die Nazis und auch für die Wehrmacht, die die Front hielt, damit beispielsweise die industriemäßige Vernichtung von Menschen in Auschwitz bis zur Befreiung dieses füchterlichsten aller Vernichtungslager am 27. Januar 1945 weitergehen konnte, für die war der 8. Mai eine Niederlage. Wer heute von einer Niederlage Deutschlands spricht, der muss wissen, in welche Tradition und Gesellschaft er sich damit begibt.
Drei Lehren, denke ich, sollten wir aus dem 8. Mai 1945 heute ziehen.
Lassen wir uns nicht verwirren von Geschichtsklitterungen, die dem Ziel dienen, die Erinnerung auszulöschen und die Aggressoren und ihre Opfer, die sich wehrten, auf eine Stufe zu stellen.
Wer die Zerstörung Dresdens oder Pforzheims im Bombenkrieg und ihre vielen Opfer beklagt, darf nicht schweigen von der Generalprobe, der Zerstörung Guernikas durch die Nazi-Luftwaffe mit Dornier- und Heinkel-Flugzeugen schon während des spanischen Bürgerkriegs 1937, und von ihren Flügen, um 1940 England zu „coventrieren“, wie sie das großmäulig nannten, als sie die Industriestadt Coventry mitsamt ihrer Kathedrale in Schutt und Asche gelegt hatten.
Wer Ostpreußen oder Schlesien als ehemaligen Siedlungsgebieten deutschsprachiger Menschen nachtrauert und Vertreibungsschicksale beklagt, spricht von den Reaktionen der Opfer eines Angriffskriegs, der im deutschen Namen begangen wurde.
Auch die Totalitarismus-Doktrin gehört zu diesen Geschichtsklitterungen, mit der Nazi- Kollaborateure zu verdienten Freiheitshelden umgelogen werden sollen.
Die zweite Lehre: Von deutschem Boden darf nie mehr ein Krieg ausgehen.
Darüber werden wir auf dieser Kundgebung noch einiges hören. Auch hier dürfen wir uns nicht das Hirn vernebeln lassen.
Es ist eine gute Sache, dass auf Drängen der Studierenden im Bildungsstreik die Universität Tübingen in ihre Grundordnung hineingeschrieben hat: „Lehre, Forschung und Studium sollen friedlichen Zwecken dienen, das Zusammenleben der Völker bereichern und im Bewusstsein der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen erfolgen.“ Ausgerechnet vor diesem Hintergrund drängt die Bundeswehr in die Uni mit einem Forum zu „Sicherheitsfragen“ und einem Seminar „Angewandte Ethnologie und Militär“, und das wird uns verkauft als Friedenssicherung. Aber Kriegsvorbereitung, auch wenn sie vermeintlich intelligent daherkommt, dient nicht friedlichen Zwecken.
Der „Verfassungsschutz“ versucht die Kampagne für eine ähnliche Zivilklausel in Karlsruhe zu diskreditieren mit der atemberaubenden Entdeckung, dass auch Menschen, die sich in der VVN-BdA engagieren, sich dafür einsetzen. Auf die Idee, dass doch genau das auch eine Lehre des 8. Mai 1945 sein könnte, kommen die Herrschaften anscheinend nicht. Aber darum geht es!
Und die dritte Lehre dieses historischen Datums: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
Nicht ohne Grund wurden die Maßnahmen und Bestimmungen, die ab 1945 zur Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus und Militarismus erlassen wurden, bei der Gründung der Bundesrepublik im Artikel 139 zum Bestandteil des Grundgesetzes gemacht. Wenn man das ernst nimmt, ist der Antifaschismus Staatsdoktrin und solche Parteien wie die NPD gehören aufgelöst!
Es ist schlimm genug, dass es für die NPD eines förmlichen Parteiverbots bedarf, das deshalb nicht zustande kommt, weil man bei dieser Partei nicht unterscheiden könne – sagt das Bundesverfassungsgericht -, was ihr eigentlich an authentischen Äußerungen und Handlungen zuzurechnen ist und was den sogenannten V-Leuten des Verfassungsschutzes, die in dieser Partei wirken.
Als ich vor einem Jahr erlebt habe, wie die Polizei in Ulm vorging gegen junge Menschen, die einen Aufmarsch der NPD verhindern wollten, ausgerechnet am 1. Mai, am Tag der internationalen Solidarität der Arbeiterbewegung, da habe ich mich wirklich gefragt: Wer hat sich eigentlich diese Provokation ausgedacht, die Nazis oder die V-Leute des Verfassungsschutzes?
Es ist höchste Zeit, dass mit einem NPD-Verbot diesem Spuk auch rechtlich der Boden entzogen wird und dass solche Parteien wie die NPD und das, was sie verbreiten und vertreten, wieder dorthin gestellt wird, wo es nach 1945 war und weiterhin hingehört:
Außerhalb dessen, was eine zivilisierte demokratische Gesellschaft in ihrer Mitte duldet! Als die Jungnazis im Sommer 2007 hier in Tübingen demonstrieren wollten, haben viele Menschen gemeinsam dafür gesorgt, und unter ihnen auch viele Schülerinnen und Schüler, dass das ein sehr kläglicher Aufmarsch wurde.
Ich finde es gut, wenn Schülerinnen und Schüler in Tübingen auch heute aufmerksam registrieren, wenn beispielsweise einer ihrer Lehrer in Leserbriefen von der „Avantgarde- Funktion“ des Nazi-Blatts „Junge Freiheit“ schwärmt, Abiturienten mit „menschlicher Substanz“ den Wehrdienst anempfiehlt – haben dann die Zivildienstleistenden für ihn keine menschliche Substanz oder wie? – und sich dagegen wehrt, dass in Gedenktagen, die mit den Weltkriegen in Zusammenhang stehen, „zunehmend die Mahnung für den Frieden“ im Vordergrund steht. Ja, was denn sonst, wenn nicht die Mahnung für den Frieden?
Ich wünsche mir ein Klima an den Schulen, in dem darüber offen diskutiert werden kann, und bin froh darüber, dass es nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Pädagoginnen und Pädagogen gibt, die sich dafür engagieren.
Mit der Verketzerung des Antifaschismus durch die Staatsschutzbehörden, bis hin zu dem versuchten und dann glücklicherweise abgewendeten Berufsverbot für einen Lehrer, der sich in Heidelberg in einer Antifa-Initiative engagiert hatte, muss ein für allemal Schluss sein.
Ich danke für eure Aufmerksamkeit.