Was geschah in Oradour? Der schwierige Umgang mit Naziverbrechen in Deutschland
22. Januar 2014
Lidice im Oktober 2012, Sant’Anna di Stazzema im März 2013 und im September nun Oradour-sur-Glane – Bundespräsident Gauck besuchte diese drei Orte, deren Einwohner/-innen von der SS ermordet worden waren. In Oradour zitierte Gauck in seiner Ansprache sogar Brecht. Billige Gesten, wie die „junge Welt“ nach Gaucks Besuch in Sant’Anna meinte?
Anfang Juni 1944 befand sich die SS-Division „Das Reich“ unweit von Limoges im Südwesten Frankreichs. Sie hatte den Auftrag, dort die Résistance zu bekämpfen, und zwar mit „schärfsten Maßnahmen“ und „rücksichtsloser Härte“ Nach der Rückeroberung der von Partisanen bereits befreiten Stadt Tulle richtete sie dort am 9. Juni ein Massaker an. Einen Tag später, am 10. Juni, beging eine Einheit der SS-Division das Massaker von Oradour. „Der Name Oradour gilt bis heute als Synonym für Kriegsverbrechen gegen die unschuldige Zivilbevölkerung.“ (Ahlrich Meyer) Partisanenbekämpfung war der Vorwand für das Massaker, aber in Oradour gab es weder Partisanen und keine noch Waffenverstecke.
642 Einwohner von Oradour wurden ermordet. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche eingesperrt und diese dann angezündet. Kaum jemand konnte entkommen. Nach dem Massaker wurde der Ort in Schutt und Asche gelegt. Nach der Befreiung entschloss man sich, die Ruinen als Mahnmal stehen zu lassen und das neue Dorf Oradour nicht weit davon entfernt zu errichten. Noch heute erinnern die rauchgeschwärzten Ruinen an das furchtbare Verbrechen.
In der BRD wurde keiner der Täter vor Gericht gestellt, auch nicht der verantwortliche SS-General Lammerding. Aber zwei Prozesse gab es gegen die Täter: einen in Bordeaux 1953 und einen in Berlin/DDR 1983. In dem Verfahren in Bordeaux gab es zahlreiche Verurteilungen. 30 Jahre später konnte ein ehemaliger Offizier der verantwortlichen SS-Kompanie namens Barth in der DDR aufgespürt und zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Nach der „Wiedervereinigung“ wurde das Urteil von den Gerichten bestätigt.
In der DDR hatte das zuständige Ministerium für Staatssicherheit zwar weitere Tatverdächtige ermittelt, aber keine für eine Anklage ausreichenden Beweise gegen sie gefunden. Hinweise auf diese Verdächtigen ergaben sich aus einer – allerdings angreifbaren – Publikation der „Gauck-Behörde“. Unter Hinweis auf diese Publikation erstattete der Verfasser dieses Beitrag deshalb im März 2006 Strafanzeige. Im Dezember 2011 fanden Hausdurchsuchungen bei einem halben Dutzend Tatverdächtigen statt, hauptsächlich in Westdeutschland. Entscheidend sei gewesen, so Staatsanwalt Brendel aus Dortmund, dass man in den Akten des MfS eine Liste der Angehörigen der verantwortlichen SS-Kompanie gefunden habe.
Dass in Deutschland wieder in Sachen Oradour ermittelt wird, hat es dem französischen Präsidenten Hollande (früher war er Bürgermeister von Tulle) sicherlich erleichtert, Gauck nach Oradour einzuladen. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Einladung undenkbar gewesen. Zu groß waren in Oradour die Vorbehalte auch gegenüber der Regierung in Paris, hatte doch die französische Nationalversammlung die 13 elsässischen SS-Angehörigen, die 1953 verurteilt worden waren, umgehend amnestiert (gegen die Stimmen nur der kommunistischen Fraktion). Und noch 2004 gab es Vorbehalte unter Überlebenden, als zum 60. Jahrestag des Massakers erstmals eine deutsche Delegation zu der Gedenkfeier nach Oradour eingeladen wurde – die dann aber doch herzlich empfangen wurde.
Von DRAFD (Verband Deutscher in der Résistance, den Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition und der Bewegung Freies Deutschland – inzwischen mit der VVN-BdA fusioniert) und ver.di veranstaltet, reisten etliche Jugendliche nach Limoges, Tulle und Oradour, nahmen an den Gedenkfeiern teil und sprachen mit Überlebenden. Begleitet wurden die Jugendlichen vom DRAFD-Vorsitzenden Ernst Melis und von Gerhard Leo („Rescapé“), die beide während der Okkupation Frankreichs dort gegen die Okkupanten gekämpft hatten.
Die Präsidenten Gauck und Hollande in den Ruinen der Kirche von Oradour – gemeinsam mit dem Überlebenden Robert Hebras, der 1983 als Zeuge in Berlin ausgesagt hatte und Gerhard Leo kannte und schätzte: Das Bild ging durch die Presse. In dieser Situation konnte Gauck nicht in der von ihm bekannten Weise gegen Kommunismus und DDR und für Auslandseinsätze der Bundeswehr und deutsche Verantwortung weltweit sprechen. Aber er versuchte, den Umstand zu bagatellisieren, dass die BRD-Justiz jahrzehntelang die Täter von Oradour unbehelligt ließ. Und das Urteil von 1983 ließ er unerwähnt. Kein Wunder – erging es doch in der DDR.
Jens Rüggeberg (aus: antifa, Nov./Dez. 2013)
Aus dem Tagebuch von Denise Bardet:
„Man darf die Nazibarbarei nicht mit Deutschland gleichsetzen. Man muss Börne, Büchner, Heine in Frankreich lesen, um zwischen dem unsterblichen Deutschland und seinen Herren für einen Tag unterscheiden zu können. Und vor allem, man muss die Namen von heute nennen, die Hoffnung und Hymne der Zukunft bedeuten: Thomas Mann, Bert Brecht, Heinrich Mann, Anna Seghers, Lion Feutchtwanger, Willi Bredel, Emil Ludwig, Egon Erwin Kisch, Erich-Maria Remarque, Ludwig Renn, Franz Werfel, Musil… In ihren glühenden Worten, ihrem Talent, ihrem Zorn findet man das große, geknebelte Volk wieder. Alles, was wirklich französisch in Frankreich ist, müsste dieses Deutschland des Exils kennen, lieben und verteidigen.“
Aus: Bardet, Denise: Das Tagebuch der Denise Bardet. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Leo, Trafo-Verlag, Berlin 2004
Denise Bardet, Elementarschullehrerin in Oradour, starb zusammen mit ihrer Schulklasse an ihrem 24. Geburtstag am 10. Juni 1944 in der Kirche von Oradour.