»Ein Spiel mit dem Feuer«

31. August 2014

30. August 2014 – Kundgebung auf dem Holzmarkt, Tübingen, zum Antikriegstag:
Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg

Verehrte Anwesende,
liebe Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner,
liebe Freundinnen und Freunde,

in den Jahrzehnten nach 1945 dürfte der Antikriegstag, der 1. September, an den wir heute erinnern, selten eine derart beklemmende Aktualität bekommen haben wie in diesem Jahr – und zwar angesichts der Lage in Europa.  75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und 100 Jahre nach dem Ersten, beide ausgelöst durch Deutschland, sieht es wieder so aus, als ob ein neuer Krieg in Europa vorbereitet werden würde.

Im Februar 2014 wurde der ukrainische Präsident Janukowitsch gestürzt – unter maßgeblicher Beteiligung der Westmächte, der EU und Deutschlands.  Der Regimewechsel wurde mit Hilfe von militanten Ultranationalisten, Rassisten, Antisemiten und faschistischen Gruppierungen herbeigeführt.  Die ukrainische Gesellschaft ist gespalten; ein Großteil, vor allem im Osten und Süden des Landes, lehnt die politische Entwicklung der letzten Monate ab.

Gleich nach dem Umsturz wurde ein Gesetz gegen »Separatismus« verabschiedet, dessen Gummiparagraphen formal die Handhabe dafür bieten sollen, gegen politische Gegner vorzugehen.  Als »Separatist« gilt, wer nicht das Putsch-Regime unterstützt, sondern für eine Föderalisierung des Landes, für den bisherigen Status der russischen Sprache und eine gute Zusammenarbeit mit Rußland eintritt.  Die Putschisten haben jedoch von Anfang an einen antirussischen Kurs gesteuert.  Seit dem Frühjahr 2014 findet ein Krieg dieses Regimes gegen die eigene Bevölkerung statt, die sog. Anti-Terror-Operation.  Ist der Einsatz des Militärs im Inneren an sich schon ein Verbrechen, wird dieser Krieg zudem mit terroristischen Mitteln geführt.

Nicht nur die ukrainische Armee kommt zum Einsatz, sondern auch paramilitärische Verbände, die von den Oligarchen des Landes unterhalten werden: das sind kleine Privatarmeen.  Hinzu kommt die »Nationalgarde«, die vorwiegend aus den rechtsextremistischen Schlägertrupps des sog. »Euromajdan« gebildet wurde.  Zwar sollten diese aufgelöst werden, doch wurden sie durch die Übernahme in die Nationalgarde quasi legalisiert.  Eigentlich ist die Ukraine pleite, doch sie leistet sich eine zusätzliche, paramilitärische Formation.

Seit dem Umsturz hat es mehrere Wellen der Mobilmachung in der Ukraine gegeben.  Nicht nur im direkten Sinne des Einzugs von Reservisten zur Armee.  Politik und Medien sprachen vom »Krieg gegen Rußland«, den allerdings große Teile der ukrainischen Gesellschaft ablehnen.  Eines der Schlagworte lautet »Rašizm«, eine Anspielung auf das englische Wort für Rußland, »Russia«, und den Begriff ›Rassismus‹.  Allerdings trifft diese Art von Stimmungsmache nur auf begrenzte Resonanz.  Viele der zum Militär Einberufenen versuchen, sich der Armee zu entziehen oder vom Kriegsdienst freizukaufen.  Ein häufiger Vorwurf lautet, daß nur die einfachen Wehrpflichtigen rekrutiert werden, nicht aber die Angehörigen der Oligarchen und der hohen Beamten.

Ukrainisches Militär und Privatarmeen werden zusammen mit der Nationalgarde seit April 2014 in der Ostukraine eingesetzt.  Nicht nur, daß zivile Infrastruktur wie öffentliche Gebäude, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Pflegeheime beschossen und zerstört werden, nein, im Zuge der Anti-Terror-Operation werden regelmäßig auch Wohnhäuser, offenkundig absichtlich, zerstört.  Gas-, Wasser- und Stromversorgung werden gezielt beschossen.  Siedlungen und Städte werden belagert.

Nach Angaben der UNO beläuft sich die Zahl der zivilen Todesopfer in der Ukraine auf über 2.600; die Zahl der Verletzten dürfte sich im fünfstelligen Bereich bewegen.  Der terroristische Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte dazu, daß Hunderttausende geflüchtet sind, der größte Teil von ihnen nach Rußland.  Offensichtlich betrachten große Teile der ukrainischen Gesellschaft Rußland nicht als Feind.

Dies festzustellen heißt nicht, Rußland und die russische Politik oder die Verhältnisse dort zu idealisieren.

Es bedeutet auch nicht, das Vorgehen der sog. »pro-russischen Separatisten«, die man eher als Rebellen oder Aufständische bezeichnen sollte, unkritisch hinzunehmen.  Wesentliche Motive des Widerstandes im Südosten der Ukraine sind die Verteidigung des Status der russischen Sprache, der Erhalt guter und enger Beziehungen zu Rußland, nicht zuletzt der Wirtschaftsbeziehungen, mithin vieler Tausender Arbeitsplätze, die vom Austausch mit Rußland abhängen.  Dazu muß man wissen, daß das Kiewer Regime sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland auf ein Minimum zu reduzieren, wenn nicht ganz zu kappen.  Das im September zu Ratifizierung anstehende EU-Assoziierungsabkommen wird ein übriges tun, um die Handelsbeziehungen der Ukraine mit Rußland zu stören.  Obwohl Poroschenko die Rada aufgelöst hat – mit der Begründung, sie würde nicht mehr den Volkswillen widerspiegeln – soll sie das Abkommen noch ratifizieren.

Daß sich der rußlandverbundene Südosten der Ukraine wehrt, wird vielleicht auch durch folgende Tatbestände verständlich:

Mitglieder der mit Faschisten durchsetzten Kiewer Marionettenregierung oder der sie tragenden Parteien haben die Ostukrainerinnen und Ostukrainer wiederholt – wortwörtlich – als »Untermenschen« oder »Unmenschen« tituliert, darunter der sog. Übergangspremier Jazenjuk, aber auch der unter zweifelhaften Umständen neugewählte »Präsident« Poroschenko.

Im ukrainischen Internetsender »Bürger-TV« hat vor kurzem ein sog. Journalist die Überlegung angestellt, daß allein im Gebiet von Donezk, in dem etwa vier Millionen Menschen leben, anderthalb Millionen Menschen umzubringen seien.  Sie seien »überflüssig«, und aus dem richtig verstandenen nationalen Interesse der Ukraine bliebe nichts anderes übrig, als sie möglichst bald umzubringen.  Das Donbass sei als »Ressource« zu verstehen, auf eine Verständigung mit den Menschen käme es nicht an.

Als eine Aktivistin von »Human Rights Watch« von einem anderen »Journalisten« desselben Senders dazu aufgefordert wurde, Rußland für Menschenrechtsverletzungen und die katastrophale humanitäre Lage in der Ostukraine verantwortlich zu machen, und sie sich weigerte, dies zu tun, wurde ihr das Wort abgeschnitten und das Interview abgebrochen.  Dazu muß man wissen, daß »Human Rights Watch« bestimmt keine besonders rußlandfreundliche Organisation ist und daß der erwähnte Sender »Bürger-TV« pünktlich zum Beginn des »Euromajdan« auf Sendung gegangen und mit Geldern westlicher Stiftungen finanziert wird.

Ähnliche Feindbildkonstruktionen finden sich nicht erst  seit Beginn des Ukraine-Konflikts in den westlichen Massenmedien.  Ihre Berichte beziehen sie häufig direkt aus dem »Ukraine Crisis Media Center« (UCMC), das im Hotel »Ukrajina« am Kiewer Unabhängigkeitsplatz seinen Sitz hat, wo auch die meisten westlichen Journalisten seit dem Beginn der »Euromajdan«-Demonstrationen unterkommen. Dieses Medienzentrum wird ebenfalls maßgeblich von westlichen Stiftungen finanziert.  Westliche Medien übernehmen oft direkt die Darstellungen dieses Zentrums und machen sich damit zum Sprachrohr des Kiewer Regimes.

Nicht nur, daß dieses Regime vom Westen an die Macht gebracht, sondern auch, daß es bis heute von der deutschen Regierung gestützt und von den meisten Massenmedien hierzulande wohlwollend behandelt wird, ist ein Skandal.   Ein Skandal – wir erinnern heute ja an den 1. September 1939 – auch angesichts der deutschen Kriegsziele und Kriegsführung in den beiden Weltkriegen!  In beiden Kriegen spielte die Ukraine eine zentrale Rolle in den Planungen zur Aufspaltung und Kolonisierung des Russischen Reiches bzw. der Sowjetunion, nicht zu reden von den massenhaften Verbrechen an der Zivilbevölkerung: der Rekrutierung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, der Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, aber auch den Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen.

Daher läßt sich fragen: Sucht die deutsche Regierung die alten Kriegsziele wieder zu erreichen, nun im Bunde mit den Westmächten, in der Ukraine ein weiteres Mal gestützt auf Ultra-Nationalisten und Faschisten?

Die Kiewer Marionettenregierung ist nicht nur gewaltsam an die Macht gekommen und führt einen schmutzigen Krieg im eigenen Land.  Sie unterdrückt die Opposition, nicht nur mit militärischen Mitteln.  Insbesondere die politische Linke wird verfolgt, ein Verbot der kommunistischen Partei vorbereitet, die Fraktion der KP in der Rada wurde aufgelöst. Das erinnert an Militärdiktaturen.  Erinnert sei auch daran, daß die sog. »Schüsse vom Majdan« bis heute nicht aufgeklärt sind.  Eigentlich müßte die Kiewer Führung doch jedes Interesse daran haben.

Nicht aufgeklärt ist auch das Massaker vom 2. Mai in Odessa, als mindestens 46 Menschen im oder vor dem Gewerkschaftshaus erschossen oder infolge des von rechten Schlägertrupps gelegten Brandes qualvoll umkamen.  Nicht aufgeklärt ist ein Massaker an der Zivilbevölkerung von Mariupol.  Die verbrecherische Anti-Terror-Operation hatte ich erwähnt.  Nicht aufgeklärt ist auch der Absturz der malaysischen Boeing am 17. Juli mit beinahe 300 Toten.

Kiew und der Westen waren und sind jedesmal schnell bei der Hand mit Schuldzuweisungen an die Adresse der sog. »Separatisten« und »Terroristen« sowie an Moskau.  Dabei konnten in keinem Fall belastbare Belege für die Schuld der Aufständischen oder Moskaus angeführt werden: keine Fotos, keine Filmaufnahmen, keine unabhängigen Berichte.  Statt dessen wird mit unscharfen und häufig offensichtlich montierten Clips auf »Youtube« oder aus ›sozialen Netzwerken‹ operiert.

Der Westen hat längst Sanktionen gegen Rußland verhängt, die regelmäßig verschärft werden.  Sanktionen dienen der Eskalation, der Feindmarkierung und der Kriegsvorbereitung.  Wir kennen das vom Jugoslawien- und Irak-Krieg.  Lassen wir uns nicht täuschen, wenn in Europa zwischendurch vorsichtigere Töne aus den Regierungen zu hören sind.

Bisher hat sich Rußland, was immer man sagen mag, nicht in eine militärische Auseinandersetzung in der Ukraine verwickeln lassen, allen Provokationen zum Trotz.

Für den kommenden September sind acht NATO-Manöver in der Ukraine geplant.  Erinnert sei an den Sommer 2008, als Georgien im Anschluß an gemeinsame Manöver – u. a. mit den USA – Südossetien angegriffen hat.  Die Ukraine hat mehrfach um direkten militärischen Beistand des Westens ersucht und strebt entweder eine Mitgliedschaft in der NATO oder ein Separatbündnis mit den USA an.  Die Ukraine erhält bereits westliche Militärhilfe in Millionenhöhe, u. a. aus Kanada.  Westliche Söldner, Angehörige von sog. Sicherheitsfirmen und Geheimdienstmitarbeiter sind im Land.  Die Rada soll noch vor ihrer Auflösung jene Bestimmung aufheben, die bisher die Blockfreiheit der Ukraine festschreibt.

All dies zeigt: die Kriegsgefahr in Europa ist sehr groß.

Daher sagen wir NEIN:
∙    zum Einsatz von Militär und Privatarmeen
∙    zu Kriegshetze und Kriegsvorbereitung
∙    zur Konfrontation mit Rußland
∙    zu wirtschaftlichen und politischen Sanktionen
∙    zur NATO- und EU-Osterweiterung
∙    zur Verharmlosung und Unterstützung von Faschisten

Von der Bundesregierung fordern wir:
∙    keine NATO-Manöver in Osteuropa
∙    keine Rüstungsexporte in die Region
∙    Schluß mit jeglicher Eskalationspolitik
∙    keine Zusammenarbeit mit Faschisten

Denn: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!

Christian Harde

Literaturempfehlung:
Ein Spiel mit dem Feuer.  Die Ukraine, Rußland und der Westen.  Hg. Peter Strutynski.  Köln 2014.