70 Jahre VVN Württemberg – Hohenzollern

10. Dezember 2017

Lothar Letsche

Ansprache und Moderation bei der

Matinee zum 70. Jahrestag der Gründung der VVN Württemberg-Hohenzollern

Tübingen, „Museum“, 5.11.201

 

Am 31. August 1947, morgens um 8:30 beginnend, wurde hier in diesem Gebäude im Schillersaal, der heute das Kino ist, von 200 Männern und Frauen, „politisch, religiös und rassisch Verfolgten“, wie es im Zeitungsbericht hieß, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes als Landesverband Südwürttemberg-Hohenzollern gegründet. Die überwiegend aus den Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis und aus dem Exil zurückgekehrten Antifaschistinnen und Antifaschisten bezeichneten sich als Kameradinnen und Kameraden, camarades, comrades. Das haben wir in unserer Organisation bis heute so beibehalten.

Also: liebe Kameradinnen und Kameraden,

liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,

ich freue mich sehr, Sie und euch alle zu unserer heutigen Geburtstagsmatinee begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Lothar Letsche. Mein Vater Curt Letsche war 1947 einer der 200 Gründer. Er ist 97jährig im Februar 2010 in Jena verstorben. Ich wurde im Mai 1946 in Tübingen geboren, buchstäblich als Kind der Befreiung. Denn der Zug, der die politischen Häftlinge aus dem Zuchthaus Ludwigsburg im April 1945 nach Mauthausen bringen sollte, endete an der von amerikanischen Fliegern zerstörten Donaubrücke. Im Zuchthaus Kaisheim bei Donauwörth wurde mein Vater von den Amerikanern aus der Haft befreit.

Ich gehöre heute zum Geschäftsführenden Landesvorstand der VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Ich begrüße Sie und euch in dessen Namen und zugleich für die Kreisvereinigung Tübingen-Mössingen. Mit dem Doppelnamen ehren wir unsere Mössinger Gründungsmitglieder, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des im Deutschen Reich einmaligen Mössinger Generalstreiks gegen Hitler am 30. Januar 1933 waren.

Das Gebiet, für das die VVN damals gegründet wurde, reichte von Freudenstadt über Tuttlingen; Calw, Schwenningen, Ravensburg, bis zum Bodensee. Mit dabei waren u. a. der Buchenwaldhäftling Albert Fischer aus Metzingen und unser jahrelang ältestes Tübinger Mitglied Gerda Eisenhardt, die gerade aus dem „Hotel Silber“ aus Gestapohaft entlassen worden war.

Einige besondere Gäste unserer heutigen Feier möchte ich namentlich begrüßen:

Dr. Christine Arbogast, Martin Gross, die Grußworte halten werden – vom OTFR sehe ich noch niemand -, Prof. Dr. Jürgen Wertheimer, der heute unseren Hauptvortrag halten wird, und die Gruppe JONTEF aus Tübingen.

Warum wurde die VVN geschaffen?

 In Württemberg-Hohenzollern gab es noch keine fertige Struktur zur Interessenvertretung der Naziverfolgten, als im März 1947 im Haus Gallus in Frankfurt bei einer „Interzonalen Konferenz“ die gesamtdeutsche VVN geschaffen wurde. Allerdings war sie nur ein Koordinierungsgremium für Landesvereinigungen, die jeweils von der zuständigen Besatzungsmacht lizenziert werden mussten. Deren Gründung passierte, wie eingangs gesagt, am 31. August 1947 hier in diesen Gebäude.

Über einen ganz wichtigen Akteur der Frankfurter Interzonenkonferenz werden wir heute noch einiges hören: Hans Mayer. Er hielt dort das erste Hauptreferat zum Thema „Widerstandsbewegung und Friedensvertrag“. Wir haben Fotokopien davon ausgelegt.

 Er zog einen Bogen von den Märztagen 1848 zu den Märztagen 1933 – dem Beginn der Wiederaufrüstung -, 1938 – dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs“ – , und 1939, dem Einmarsch der Nazis in Prag.

Heute im März 1947,  konstatierte Hans Mayer, erlebten die Zeitgenossen,

„ … im Tiefpunkt diese Entwicklungs-Märztage, an denen die Frage der deutschen Einheit überhaupt – nicht ob groß- oder kleindeutsche Lösung – besteht. Es drängt sich die Frage auf, warum dieser furchtbare Zusammenbruch in knapp einhundert Jahren? Weil es nicht gelungen ist, die große deutsche, bürgerlich-demokratische Revolution des Jahres 1848 durchzusetzen, weil immer wieder deutsche Freiheitsbewegungen niedergeknüppelt, niedergetreten, durch einen Schlag der Gegenrevolution, einen Sieg der Reaktion abgelöst wurden. Darum … steht es heute so, dass überhaupt die Einheit Deutschlands, der Bestand eines deutschen Staates, gar nicht mehr eines deutschen Reiches in Frage steht, und daraus haben wir die Lehre zu ziehen. Wir müssen die wirkliche deutsche Geschichte betrachten, und wir müssen sie betrachten als Männer des Widerstandes, als Männer deutscher Freiheitsbewegungen, als Männer, die gegen Hitler kämpften und die unter Hitler Opfer gebracht haben. Nichts ist notwendiger, wie ich glaube, als der Versuch, alle Legenden über Deutschland ein für allemal auszuräumen und der deutschen Entwicklung klar ins Auge zu sehen. Wenn wir es nicht tun, diejenigen, die man mit Recht als die Vertreter, als Bannerträger und als notwendige Grundlage einer freien deutschen Zukunft genannt hat, so wird es niemand tun.“

Sieht man davon ab, dass Hans Mayer nur von den Männern des Widerstandes sprach und nicht auch von den Frauen, so ist mir das so aus dem Herzen gesprochen, dass Herr Professor Wertheimer bitte entschuldigt, dass ich seinem Vortrag schon ein kleines bisschen vorgegriffen habe.

Hans Mayer war bis zu seiner Übersiedlung an die Leipziger Universität 1948 der hessische Landesvorsitzende der VVN, und als er dann Jahrzehnte später in Tübingen lebte, bis zu seinem Tod Mitglied unserer Kreisvereinigung und zuletzt auch unser Ehrenmitglied.

Wer waren die Gründerinnen und Gründer der VVN ?

 Die VVN gilt traditionell als Organisation der „politisch Verfolgten“ des Naziregimes und ihre Vorläuferorganisationen bezeichneten sich auch so. Das war aber nicht als Abgrenzung zu verstehen.

Die vor 70 Jahren beschlossene Satzung der VVN Südwürttemberg-Hohenzollern ließ als Mitglied zu, „1. wer aus politischen Gründen vom Nationalsozialismus a) wegen seiner politischen Betätigung oder  b) wegen seiner Weltanschauung oder c) wegen seiner Religion oder religiösen Betätigung oder d) wegen seiner Rasse verfolgt worden ist und nach Beendigung der Verfolgung Nazigegner geblieben ist, 2. Hinterbliebene oder Familienangehörige [dieser] Personen, 3. die während des Naziregimes sich nachweisbar als dessen Gegner gezeigt, Schaden erlitten haben, die Ziele der Vereinigung anerkennen und bereit sind, sich aktiv dafür einzusetzen.“

 Auch wenn das keine erschöpfende Aufzählung aller Opfergruppen war, sind doch die wesentlichen benannt – selbstverständlich auch die Juden, Sinti und Roma – und es ist klar, worum es ging: um eine überparteiliche, alle Verfolgungsgruppen umfassende Vertretung der Opfer der Nazipolitik.

Und worum ging es ihnen? Enthüllung der faschistischen und militaristischen Verbrechen – Würdigung des Widerstands – Ehrung der Opfer – Sicherung von Unterlagen – Ausschaltung der „belasteten Elemente“ aus dem öffentlichen Leben und aus Schlüsselpositionen – „Beseitigung des Nationalsozialismus in allen seinen Erscheinungsformen“ – Soziale und kulturelle Betreuung der Verfolgten und ihrer Hinterbliebenen – „Einsetzen dieser Personen in angemessene Stellungen, Hilfe bei der Berufsausbildung“ – Erholungsheime – kameradschaftlicher Zusammenhalt. Das sind die Stichworte aus der Satzung der VVN Württemberg-Hohenzollern in der Fassung von 1948.

Dauerkonflikt mit der SPD

 Schwer mit der VVN tat sich von Anfang an der von Kurt Schumacher geführte Westzonen-Parteivorstand der SPD. Bereits in einem Rundschreiben an SPD-Bezirksvorstände vom 4. Dezember 1946 wurde dringend empfohlen, „die Anregung zur Gründung solcher Vereinigungen abzulehnen und da, wo ihre Gründung nicht verhindert werden kann, die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in diesen Vereinigungen zu verweigern.“

Die naziverfolgten Sozialdemokraten machten natürlich ihre eigenen Erfahrungen mit den damaligen Behörden und politischen Parteien und dort vorhandenen ehemaligen Nazis, und brachten sich anfänglich in nicht geringer Zahl in die Arbeit der VVN ein, die – wie beim Lesen alter Unterlagen plastisch deutlich wird – eine sehr große antifaschistische Bündnisbreite real verkörperte. 1947 hat noch – nur als Beispiel – die Tübinger Stadtverwaltung die Bürgerschaft aufgerufen, an der von der VVN veranstalteten Feier zum „Tag der Opfer des Faschismus“ teilzunehmen.

Aber im September 1948 fasste ein SPD-Parteitag, auch auf Drängen z. B. von Herbert Wehner, einen „Unvereinbarkeitsbeschluss“ mit der VVN  und stürzte damit viele sozialdemokratische VVN-Mitglieder in schwere Gewissenskonflikte. (Formal wurde dieser Beschluss erst 2010 aufgehoben.) Sie sollten nur noch in einer Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten mitarbeiten.

Nicht ganz im Einklang damit war es schon im Frühjahr 1948 – noch vor einem regionalen Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD – in Tübingen zu einer Gegengründung mit antikommunistischer Ausrichtung durch einzelne aus der VVN ausgetretene Naziverfolgte aus SPD, FDP und CDU gekommen. Vier der damaligen 11 Landesvorstandsmitglieder traten im März 1948 aus. Dagegen verwahrte der Reutlinger Sozialdemokrat Albert Blon sich ausdrücklich dagegen, für eine Spaltung der VVN vereinnahmt zu werden. Die Gegengründung schwächte die Arbeit in Tübingen, scheint aber in unserer Region später keine Rolle mehr gespielt zu haben.

In jenen Jahren hatte die VVN ohne Zweifel eine schwere Gratwanderung zu bestehen. Der „Kalte Krieg“, in den sie hinein gezogen wurde, war ja in manchen Teilen der Welt durchaus ein heißer Krieg. Die Amerikaner kämpften in Korea, die Franzosen in Indochina und rekrutierten auch Deutsche für ihre Fremdenlegion. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg war groß. Konnten und durften deutsche Antifaschisten in einer Organisation, die sich später mit ihrem Zusatznamen zeitweise als „Bund gegen Faschismus und Krieg“ benannte, politische Abstinenz üben? Wie konnte die überparteiliche VVN Kurs halten?

Von bestimmten sozialdemokratischen und bürgerlichen Kreisen war die Kameradschaft aufgekündigt worden, die in den KZs, in der Emigration, in den Internationalen Brigaden in Spanien über Parteigrenzen hinweg geübt worden war. Als Folge lichteten sich die Reihen der VVN, die Kommunisten blieben natürlich. Nun wurde sie erst recht als angebliche Tarnorganisation der inzwischen verbotenen KPD hingestellt und schließlich wurde versucht, sie vor dem Bundesverwaltungsgericht ebenfalls zu verbieten.

Dieser Verbotsprozess, in dem VVN u.a. durch den Tübinger Rechtsanwalt Dr. Rudolf Zimmerle vertreten wurde, scheiterte allerdings spektakulär: Es stellte sich heraus, dass der zuständige Senatspräsident ein ehemaliger Blutrichter der Nazis gewesen war.

 Wiedergutmachung

 Zum Kerngeschäft der VVN in jenen Jahren gehörte die solide Interessenvertretung für die Naziverfolgten.

Als die Karlsruher Außenstelle des Wiedergutmachungsamts Ende 1969 geschlossen wurde, schrieb ihr Alfred Hausser: „Die Amtsangehörigen und die VVN waren bemüht, … im Rahmen von vier sich einander ablösenden Gesetzen schweres Unrecht, das von Deutschen an Deutschen verübt wurde, wieder gutzumachen – soweit dies überhaupt möglich war. Wenn auch nicht jeder Geschädigte sein Recht gefunden hat, wofür in erster Linie der Gesetzgeber verantwortlich ist, so dürfen wir doch feststellen, dass die Ergebnisse unserer gemeinsamen Bemühungen beachtlich sind und dass dadurch viele von der Verfolgung Betroffene menschlich und wirtschaftlich wieder aufgerichtet wurden.“

Alfred vergaß nicht, die Amtsangehörigen zu bitten, „als Staatsbürger dieses Unrecht [zu] bezeugen und für die Verfolgten ein[zu]stehen […], wenn die Situation es erfordert – denn die Vergangenheit ist leider noch nicht bewältigt.“

 Es gab in Württemberg-Baden – also der amerikanischen Besatzungszone – ein besonderes Gesetz, das „politisch Verfolgten“ einen Zusatzurlaub von 5 Tagen im Jahr gewährte. 1974 gelang es der IG Metall, diesen Zusatzurlaub per Tarifvertrag auch für das Tarifgebiet Südwürttemberg-Hohenzollern durchzusetzen. Nicht zuletzt dank solcher Persönlichkeiten wie Willi Bleicher in Stuttgart und Helmut Buck in Reutlingen hatte die VVN immer einen guten Draht zur IG Metall.

Geschichtsforschung und Gedenken

Wer heute aufmerksam durchs Land fährt oder durch eine Stadt wie Tübingen geht, bemerkt viele Zeichen der Erinnerung an die NS-Verfolgung. Das war nicht immer so, und anerkannt ist die Pionierrolle, die die VVN über Jahrzehnte hierbei gespielt hat.

  • Das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof für die in der Anatomie der Universitätsklinik gelandeten Leichenteile der Opfer der Nazijustiz,
  • das regelmäßige Gedenken an den Mössinger Generalstreik – Demonstrationen mit 15.000 Menschen im Jahr 1983, 1200 im Jahr 2013,
  • die jahrelangen Bemühungen um eine Gedenkstätte für die KZ-Häftlinge am ehemaligen Flugfeld Hailfingen-Tailfingen,

das sind nur drei heraus gegriffene Beispiele aus unserem Landkreis, die die Anwesenden ohne Zweifel durch viele andere aus ihrer eigenen Region ergänzen können.

Das ist bis heute für unsere Kreisvereinigungen und viele unserer Mitglieder ein ständiges Arbeitsfeld geblieben. Die Perspektive, die wir einbringen, ist die unserer Gründerinnen und Gründer, und wir verbinden es stets mit unserem wichtigsten heutigen politischen Anliegen – der Bekämpfung des Neofaschismus und jeder Rechtsentwicklung.

Manche haben schon vergessen, dass von 1968 bis 1972 die NPD mit 9,8 Prozent Wählerstimmen im baden-württembergischen Landtag saß; das Land wurde damals von einer Großen Koalition CDU/SPD regiert. Das war nicht die erste Rechtsaußenpartei, die es so weit brachte. Ein sogenannter „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ koalierte in den Anfängen Baden-Württembergs sogar mit der FDP und SPD und dann mit der CDU, und von 1992 bis 2001 erzielten die „Republikaner“ 10,9 beziehungsweise 9,1 Prozent. Und jetzt haben wir bekanntlich mit 15,1 Prozent die AfD im Landtag.

Wer wenn nicht die VVN ist berufen, in dieser Situation darauf hinzuweisen, dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist! In Österreich gilt bis heute ein Verbotsgesetz gegen Nazi-Betätigung und unser letzter Bundeskongress hat beschlossen, in einer ähnlichen Richtung initiativ zu werden.

 Zum weiteren Ablauf

 Mit ihren historischen Wurzeln und gemeinsamen Anliegen und durch ihre aktuelle Arbeit ist die VVN verbunden mit einer Vielzahl von Institutionen, Organisationen und zum Teil auch prominenten Personen. In der begrenzten Zeit, die wir für unsere heutige Matinee haben, werden drei von ihnen stellvertretend mit Grußworten zu Wort kommen

  • die Erste Bürgermeisterin der Universitätsstadt Tübingen Frau Dr. Christine Arbogast,
  • der Landesbezirksleiter der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di -, der Kollege Martin Gross, und
  • das Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus – OTFR, ein Jugendbündnis in Tübingen, das wir mit unseren Möglichkeiten unterstützen und mit dem wir bei vielfältigen Aktionen sehr gerne zusammenarbeiten.

(Das Programm wurde während des Ablaufs umgestellt. Reihenfolge:)

  • JONTEF mit Klezmer und Theater aus Tübingen.
  • Vortrag von Prof. Jürgen Wertheimer.

Danach besteht im Saal und im Vorraum die Möglichkeit, sich in Gesprächen und Diskussionen auszutauschen, historische Plakate und eine Ausstellung über Alfred Hausser anzuschauen, Bücher Broschüren und das Plakat mit unserem „Wimmelbild“ über den Neofaschismus zu erwerben, das draußen an der Wand hängt, und Getränke und einen kleinen Imbiss einzunehmen. Um 13 Uhr wird unsere Matinee zu Ende sein.

Nun bitte ich Frau Dr. Arbogast um ihr Grußwort.

Danach Grußworte von Martin Gross (ver.di) und Joachim Böck (OTFR).

Nach dem Vortrag von Prof. Wertheimer

 Veranstaltungen der VVN werden traditionell beendet mit dem Moorsoldatenlied, das am 27. August 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg im Emsland erstmals gesungen wurde. Der Text stammt von dem Bergmann Johann Esser und dem Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff, die Musik von dem kaufmännischen Angestellten Rudi Goguel, einem Elsässer. Es gibt 30 Versionen und Bearbeitungen dieses Lieds mit Interpreten wie Ernst Busch, Paul Robeson, Pete Seeger, The Dubliners und Hannes Wader. Wir haben den Text vervielfältigt ausgelegt und die Band Jontef wird die Melodie intonieren.

 (Nach dem Lied: )

Ich danke Ihnen – euch – allen, dass ihr heute gekommen seid. Ich danke sehr herzlich allen Mitwirkenden – Herrn Prof. Wertheimer, den Überbringern der Grußworte, der Gruppe Jontef, der Verwaltung, dem Hausmeister und der Restauration dieses Hauses und natürlich allen unseren Mitgliedern, die bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung geholfen haben.

Wir könnten sie heute nicht an diesem Ort in dieser Form durchführen, wenn wir nicht einen Zuschuss aus der Kulturförderung von der Universitätsstadt Tübingen bekämen. Dafür bedanken wir uns sehr herzlich bei den Verantwortlichen.

Trotzdem ist die VVN-BdA eine Organisation, die das, was sie tut, aus ihren Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Auch wenn die AfD demagogische Anfragen im Landtag stellt – wir bekommen sonst vom Staat nichts. Wir haben draußen auch eine Spendenbüchse aufgestellt und freuen uns über alles, was auf diesem Weg hereinkommt.

Ansprache und Moderation

 

Die vorgetragene Rede wich teilweise vom schriftlichen Manuskript ab.

Erste Bürgermeisterin Dr. Christine Arbogast      05.11.2017

Sehr geehrte Damen und Herren,

am heutigen Tag sind erstmals seit Langem auch wieder Abgeordnete in den Deutschen Bundestag eingezogen, die fordern, dass ein Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit Deutschlands gezogen werden müsse.

Das ist als Tatsache schier unerträglich und zeigt, wie wichtig es auch heute noch, im Jahre 2017 ist, sich in Deutschland ein mahnenden Gedächtnis an die eigene grausige Vergangenheit in den Jahren 1933 – 1945 zu erhalten.

Dazu braucht es Menschen, die sich um eine Erinnerungskultur bemühen und die sich gleichzeitig auch engagieren, wenn in der Gegenwart Entwicklungen drohen, die die Demokratie ins Wanken bringen können.

Diese Menschen gibt es beim VVN, seit nunmehr 70 Jahren hier in Baden-Württemberg, und ich möchte Ihnen herzlich gratulieren zu Ihrem Jahrestag.

Die Arbeit die Sie machen, ist keine leichte, gibt es doch inzwischen nicht wenige Menschen die meinen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, sei allemal besser als sich dauernd damit auseinander setzen zu müssen.

Demokratie – und alles was damit verbunden ist – wird als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Und viele, die demokratische Prinzipien als verhandelbar betrachten, machen sich gar nicht bewusst, dass sie damit auch an den eigenen Stuhlbeinen sägen, die eigene Freiheit damit perspektivisch einschränken.

Wir alle gemeinsam sollten nicht nachlassen, demokratische Werte hochzuhalten und zu verteidigen. Wir sollten nicht nachlassen, an den Grundrechten, wie sie in unserer Verfassung verankert sind, festzuhalten. Wir sollten nicht nachlassen, die Idee einer europäischen Union, die seit Jahrzehnten für die längste Friedensphase sorgt, die wir in Europa je hatten, diese Idee weiterzuverfolgen. Wir sollten nicht nachlassen, uns für Menschenrechte hier bei uns, aber auch andernorts stark zu machen. Und ich bin froh und dankbar, dass der VVN sich diesen Aufgaben verschrieben hat.

In Tübingen fand in den letzten Jahren eine intensive Diskussion um die Zeit Tübingens im Nationalsozialismus statt:

  • Im Frühjahr 2016 wurde der Geschichtspfad zum Nationalsozialismus angelegt, der diese dunklen Seiten der Tübinger Stadtgeschichte beleuchtet
  • Die Einrichtung eines Lern- und Dokumentationszentrums zum Nationalsozialismus in der alten Güterhalle wird geprüft
  • Im Gemeinderat wurde intensiv über die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde von Adolf Scheef, von 1927 bis 1939 Oberbürgermeister Tübingens, auf Grund seiner Rolle im nationalsozialistischen Tübingen gestritten
  • Es wurde eine Studie über den Ehrenbürger und den ehemaligen Oberbürgermeister Hans Gmelin in Auftrag gegeben, die dessen Verstrickungen im Nationalsozialismus aufgearbeitet hat
  • Wir haben ein Projekt zur Restitution von Raubgut, das bei uns im Stadtmuseum angesiedelt ist und Objekte ausfindig gemacht hat, die wenn schon nicht den eigentlichen Besitzern, so doch zumindest den Nachkommen zurückgegeben werden sollen

…. um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.

All diesen Initiativen und Diskussionen ist eine intensive Aufklärung und Erinnerung an dieses Kapitel in Tübingen wichtig.

Auch die Universität Tübingen hat als erste deutsche Uni 2015 in einer großen Ausstellung ihre eigene Rolle im Nationalsozialismus unter die Lupe genommen.

Ich selbst habe mich in den 90er-Jahren intensiv im Rahmen meiner Dissertation mit dem Thema NS auseinander gesetzt und meine historische Forschungsarbeit auch auf die Nachkriegsjahre ausgedehnt. Es ist bis heute eine aus Forschungssicht sehr spannende Frage, wie man in Deutschland mit der Aufarbeitung von Schuld umgegangen ist und heute noch umgeht. Die Parameter hierfür haben sich sehr verändert. Und wie viele Jahrzehnte es gebraucht hat, um die Verstrickungen in allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens aufzuarbeiten, hat sich mir selbst schon daran gezeigt, dass ich 1991 einen Archivar getroffen habe, der mir sagte, es sei noch zu früh für die Bearbeitung meines Themas. Ich habe wohlgemerkt über Kreisleiter und Kreisfrauenschaftsleiterinnen der NSDAP in Württemberg geforscht und eine der größten Mühen dabei war, dass viele Akten noch gar nicht sortiert und damit unzugänglich waren.

Wer also meint, wir sollten doch nun endlich aufhören, uns mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, der hat gar nicht verstanden, wie viel wir hier immer noch aufzuarbeiten haben.

Wichtig ist mir aber  – bei aller historischen Betrachtung – dennoch auch, dass es uns gelingen muss, die Menschen heute wieder für Demokratie im besten Sinne zu begeistern. Deutlich zu machen, was Emanzipation und Freiheit für jeden Einzelnen bedeuten können und welche Risiken damit verbunden sind, diese Werte leichtfertig in den Wind zu schreiben.

Ich finde es besorgniserregend, dass wir in Deutschland eine AfD haben, die mit rund 13 % der Wählerstimmen nun viele Ressourcen nutzen kann, um Werte und Normen in Frage zu stellen, die bisher bei uns Konsens waren. Eine Partei, die das Grundrecht auf Asyl in Frage stellt, aus dem Euroraum aussteigen will und postuliert, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Das widerspricht der Religionsfreiheit, wie sie in unserem Grundgesetz als eines der elementarsten Rechte verankert ist.

Zum Schluss möchte ich mich nochmal ausdrücklich bedanken für Ihre aller Engagement für die gute Sache und Ihnen Kraft, Mut und Energie für die künftige Arbeit wünschen.

 Erste Bürgermeisterin Dr. Christine ArbogastFrau Dr.Arbogast

 

Jürgen Wertheimer                                                                                                    

 

AlternativeN für Deutschland

(Vortrag am 5. Nov. 2017 aus Anlass des 70. Jahrestages der VVN

 

Liebe Freunde der VVN,

meine Damen und Herren,

Sie erwarten von mir weder eine (Sonntags-)Festrede (das will ich nicht) noch einen Fachvortrag (den kann ich nicht). Der etwas wortspielerische Titel „AlternativeN für Deutschland“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass uns – ich nehme an auch Ihnen – in Anbetracht neuer neuerer Tendenzen europaweit nicht nur zum Feiern zumute ist. Hans Mayer, der uns ja indirekt zusammengeführt hat, wäre sehr viel alarmierter, als wir es derzeit noch sind. Seine Explosionen waren gefürchtet. Jetzt wären sie angebracht!

Die wenigen Male, in denen ich ihn in den neunziger Jahren hier in Tübingen erleben durfte, hatte ich extrem zwiespältige Gefühle. Er schien die Inkarnation gutbürgerlicher Gediegenheit, ja Behaglichkeit – doch dahinter lauerte ein Abgrund, war brüchiger Boden, ein erschüttertes Gemüt, dass durch jeden nur marginal erscheinenden Vorfall aufs Neue zu erschüttern war. Als Jude, Kommunist aus Deutschland geflohen, exiliert in der Schweiz, über die DDR in der BRD gelandet, fühlte er sich nirgends mehr so recht heimisch.

Das gegenwärtige Heimat-Gesumse allenthalben hätte ihn mit Sicherheit irritiert. (Entschuldigen Sie den etwas respektlosen Ausdruck, aber in Anbetracht einer Welt von Migrationsströmen und Hunderttausenden  von Staatenlosen (selbst in Mitteleuropa, man denke etwa an Makedonien, Rumänien) finde ich diese plötzliche Heimatversessenheit etwas unheimlich). Symptomatisch dazu Mayers Überlegungen im Kontext seiner Bürgerrede 1987: „Nun wusste ich, dass ich hier im Tübinger Rathaus unter gar keinen Umständen beginnen könne und dürfe mit einem ‚Meine lieben Mitbürger!‘ Das klingt schroff, ist aber nicht zornig oder auch nur bitter gemeint, sondern beruht auf einer nüchternen Feststellung.“

Ich spreche von „erschüttertem Gemüt“. Wenig später sollte es zu dem Bruch mit der Tübinger Universität kommen, die jetzt, allmählich einzuräumen beginnt, dass sie in den dreißiger Jahren bereits exzellent war – damals freilich auf dem Sektor der Naziideologie. Ein hämischer Verriss durch einen Tübinger Kollegen hatte genügt, um das Verhältnis des Honorarprofessors Hans Mayer zur Universität Tübingen auf immer zu zerstören. Absurde Überreaktion eines beleidigten, eitlen Solisten? Keineswegs, denn sieht man sich die genannte Kritik an, so ist sie gezielt verletzend: Da ist der denunziatorisch-herablassende Gesamtgestus, mit dem das „Ragout à la Mayer“ nassforsch-pingelig in seine Bestandteile zerlegt wird, und dem Autor die „einfachsten Gesetze wissenschaftlicher Redlichkeit“ abgesprochen beziehungsweise totale Ignoranz arrogant zugesprochen wird. Am Ende ein Tiefschlaghagel – „was kennt Mayer eigentlich [überhaupt] noch“ und der giftige Ratschlag, dem Leser einen geplanten zweiten Band bitte zu ersparen. Mayer war tief getroffen. Was war geschehen? Was war im Rastersensorium Hans Mayers geschehen? Einer hatte wieder vom Büchervernichten gesprochen, mit einem symbolischen Liquidationsgestus wortgespielt, und keiner war ihm ins Wort gefallen. Kein öffentlicher Widerspruch, kein Einschreiten, keine Empörung zu spüren, die Universität vermied es, Position zu beziehen. Nein, das war kein Sturm im akademischen Wasserglas, kein privater Eitelkeitsanfall eines Gekränkten, das war für Mayer Bücherverbrennung in effigie 40 Jahre später. Virtuell und „nur“ metaphorisch – doch als Struktur identisch. „Rückschluss“ – ja. Aber kein „Kurz-Schluss“. Bücherverbrennung, Büchervernichtung war ihm Angriff aufs Innerste seiner Person. Seiner alles andere als selbstsicher in sich ruhenden Person. Er sah darin Angriff: Auch auf die Literatur. Klarsichtig: Literatur als Kassandrastimme.

Tübingen also nach Köln, der inzwischen unheimlich gewordenen Heimat – über all noch Blutgeruch und Brandgeruch (Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. 1, S. 275) – der Emigration in Frankreich und der Schweiz, der Nachkriegszeit in Frankfurt, den langen Jahren der Lehrtätigkeit in Leipzig von 1948-1963.1963, Mayer Ende 50, mit seinen zwei Koffern im Westen.

Irgendwo zwischen Franz Kafka und Charlie Chaplin und ganz weit weg von den selbstsicheren Eliten Deutschlands erscheint mir Hans Mayer jetzt: Akademischer Tramp, Paria, Außenseiter. Hannah Arendt hat den Typus des Ausgesetzten, Gestrandeten, Verfolgten in ihrem wunderbaren, klugen kleinen Buch über „Die verborgene Tradition“ des Judentums]  präzise beschrieben. Sein Buch über Außenseiter war keine Autobiografie. Persönliches hätte er nie von sich preisgegeben. Es war mehr. Es war und ist das Protokoll, das Dokument einer Entdeckungsreise, die nicht nur nach innen führt, sondern ihre sehr konkreten Anknüpfungspunkt draußen in der Welt hatte: Außenseiter-Ethnographie:

„Alles ist eingegangen in das Buch Außenseiter, die Schriften der Feministinnen, (auch) die bösartigen Gegenthesen von Norman Mailer, oder die erstaunlich kühl für eine marktgerecht auskalkulierende Spezialkundschaft hergerichteten Pornoshops, oder die Bilder der aus Deutschland emigrierten und ihrer Meetings von Außenseitern aller Art, von denen keiner den anderen ansieht und dennoch jeder den Blick eines anderen sucht.“

Im Exil haben Mayers Grundeinstellungen sich nicht verändert. Sie haben jedoch eine neue Kontur bekommen. Der Nazigegner und Antifaschist wurde zum Widerstandsorganisator. In der Schweiz fühlte er sich wie ein Schiffbrüchiger – er selbst verwendete das Bild des Floßes der Medusa. Allerdings nicht isoliert, sondern im Verbund, aus dem Gewissenswiderständler wurde ein Netzwerker und Publizist: Das einzige Feld der Arbeit, das dem Internierten blieb.

Hans Mayer gehörte zu den Begründern der Flüchtlingszeitschrift „Über die Grenzen – Von Flüchtlingen für Flüchtlinge“, die von November 44 bis Dezember 45 in 14 Heften erschien. Ihre Beiträge thematisierten die politische Lage im Exil wie in Deutschland und reflektierten die gegenwärtigen Zustände und dachten permanent über die Zeit nach dem Fall des Nazisystems nach. Im Exilland, einem schönen, wohlhabenden Land, auf Dauer zu bleiben, kam kaum einem auf dem Floß der Medusa in den Sinn.

Es berührt mich, wenn Sie mir diese Zwischenbemerkung erlauben, etwas eigenartig, wenn man in Deutschland gegenwärtig davon auszugehen scheint, dass jeder, der hier Aufnahme findet, auf Dauer auch hierbleiben möchte. So, als ob man nicht die „Heimat an den Fußsohlen mitnehme“ (H.Heine), als ob nicht auch  eine Existenz als „Weiterwanderer – Rückwanderer“ denkbar sei. Neben den Rückkehrplänen im Moment der Stunde X stand ein Thema, ein Wunsch immer wieder im Zentrum der deutschen Exilanten in der Schweiz: Das Thema, das brennende Verlangen nach Eigenverantwortlichkeit. Dazu Mayer in „Was haben wir gelernt?“ (44):

„Als ‚Objekte‘ sind wir, oder die meisten von uns, aus nicht weltanschaulichen Gründen ins Exil gegangen oder hinausgestoßen worden. Aber wir wollten unsere Immigration nicht mehr als Objekte beenden, sondern als bewusste Menschen.“

Handeln, nicht Abwarten, Aussitzen war die Devise von nun an. Man erhoffte sich eine veritable Wiedergeburt, an der man selbst aktiven Anteil hatte.

Nicht wir, wohl aber viele der Geflüchteten im Deutschland von heute dürften ganz ähnliche Grundüberlegungen haben, und es wäre ein Zeichen unserer Lernfähigkeit, wenn man sich im Stil von Hans Mayer und seinen Kameraden mal die Mühe machte, die Fragen wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen:

„Wir wollen gebraucht werden und was tun und wer sein,“ sagte mir vor kurzem ein Syrer, der seit fünf Monaten hier rumhängt. Im Geleitwort der Zeitschrift „Über die Grenzen“ von 1944 heißt es:

„Unser Leben ist vorgezeichnet, aber wir sehnen uns danach, nicht mehr Gegenstand von Verfügungen und Wohltätigkeit zu sein. Wir wollen für eine bessere Zukunft marschieren, nicht vorweg, aber auch nicht hintendrein, tatbereit mit offenen Augen.“

Alternativen für Deutschland im Kampf gegen rechts hatte ich im Titel großspurig versprochen. Ich will versuchen, das Versprechen einzulösen – ohne pompösen „möge“-Gestus.

Die nüchterne Bestandsaufnahme ergibt, dass dieser Kampf inmitten nicht ganz einfacher Gefechtslage stattfindet. Die Situation scheint auf den ersten Blick klar – ist aber vor?? faktisch diffus.

Vor einigen Wochen fand einen Steinwurf von hier eine gespenstische Veranstaltung statt, in der zwei Bürgermeister, einer von den Grünen, einer aus den Reihen der SPD, sich zu Sprechern eine Reihe von Positionen machten, die man reflexartig eher bei der AfD verorten würde. Noch merkwürdiger: 400 Tübinger Bürger hielten andächtig Maulaffen feil, blieben still und lauschten. Dies in einer Kommune, in der üblicherweise permanent Widerspruch an der Tagesordnung ist. Was war geschehen? Ist alles nur eine Verpackungsfrage: Drischt Gauland verbal auf Migranten, erregen sich die Gemüter. Aber wenn larmoyante Märtyrer der Wahrheit auf den Plan treten, sind alle betroffen. Der weiß, wovon er redet. Der hat den Mut anzusprechen, was sonst keiner sagt usw. Was soll diese rhetorische Winselei? Lassen wir uns dadurch wirklich blenden? Von diesen selbst ernannten „Sprechern“ einer stummen Mehrheit?

In jeder Diskussion kommt nachher irgendjemand und erklärt mir mit Brio in der Stimme, ob ich eigentlich wüsste, wie es „draußen“ zugeht. Ob das der Herr Professor in seinem Elfenbeinturm wüsste… Wutschäumend. Erregt. Ich finde diese neue deutsche Weinerlichkeit widerlich. Man bekommt den Eindruck vermittelt, „blonde deutsche Töchter“ könnten auch in Tübingen kaum mehr über die Straße gehen, ohne von dunkelhäutigen Araberrudeln verfolgt zu werden. Und das Besteigen einer S-Bahn wird nachgerade zum Hochsicherheitsrisiko – jedenfalls, wenn profilorientierte Politiker ihr Handy in Position bringen. Von wegen: „Wir schaffen das.“ Hallo! Wir haben es schon längst geschafft! Betten in Auffanglagern stehen leer – abkassiert wird weiter. Und: Das Abendland ist allem Anschein nach nicht untergegangen. Es ist ausgesprochen wohltuend, inmitten der aufgeregten Streitatmosphäre eine gleichermaßen kompetente wie differenzierende Stimme wie die des Reutlinger Polizeipräsidenten Alexander Pick zu hören, der sich von der allgemeinen Panikmache nicht angstecken lässt und die Dinge  zurechtrückt. Die Zahl der Delikte hat sich entgegen der landläufig verbreiteten Meinung durch Zuzug und Migration im Verlauf der letzten Jahre nicht dramatisch gesteigert. Die meisten der Delikte bewegen sich im Bereich der Kleinkriminalität. Interessante Ergebnisse – freilich nicht für jene, die sich vorwiegend für politische Scharfmacherei interessieren.

Deutschland gibt’s, scheint es, auch noch. Deutsche Werte füllen ganze Bücherwände. Heimattage ohne Ende. Es wird spekuliert, konsumiert, gefeiert. Weihnachten beginnt im September, es ist alles wie immer. Der DAX geht nach wie vor auf Rallye. Und doch: Etwas hat sich geändert: Die AfD-Leute pöbeln im Bundestag. Die Demokratie hat jetzt eine Blessur. Der Abfall dieser ideologischen Schlammschlacht – den gibt’s noch. Wenn es eine Bedrohung demokratischer Werte gibt: Dort ist sie zu lokalisieren!

Bei Gauland und Höcke mit ihren abstrusen Geschichtsthesen, die kein Gymnasiallehrer in dieser Inkompetenz auch nur eine Unterrichtseinheit lang so bringen dürfte.

Euch allen, liebe Freunde, brauche ich nicht zu erklären, welch gewaltsame Verbiegung und Verdrehung geschichtlicher Fakten hier gerade vor sich geht,  weil Sie das alles schon einmal miterleben durften. Damals waren halt jüdische Menschen, übrigens voll integrierte (!) jüdische Menschen, diejenigen, die angeblich das deutsche Volk unterwanderten und „auszulöschen“ drohten. Millionen skrupelloser Juden – – es waren gerade mal 400.000… Die allermeisten alles andere als aggressiv, sondern froh wenn sie nicht auffielen. Kurz, ich warne vor den angeblichen Realisten, die andere in die Ecke der naiven Idealisten stellen!

Aber ich warne andererseits auch davor, den vorhandenen Rassismus nur am rechten Rand zu suchen und das Phänomen weit von uns zu weisen.

Verdeckte Rassisten: Es war eben doch kein Zufall, dass Sarrazin und Co. vor Jahren solch einen immensen Erfolg hatten. Im urbanen Setting der Wissenschaft, der Künste liebt man Inter- und Transkulturelles . Symbolische Aktionen sind hoch erwünscht und wohlfeil. Der Kuschelkurs endet, wenn’s konkret wird. Es hat keinen Sinn, dieses Erbe  negieren zu wollen.

Fakt ist ein 2000-jähriges kulturelles Erbe, das nichts von kultureller Vermischung, Synkretismus, Hybridität, Verschmelzung der Kulturen wissen will. Höchstens wenn man vor der Alhambra steht oder – ausgerechnet – von der deutsch-jüdischen Symbiose schwadroniert. Also wenn keine Gefahr mehr droht. Sobald es konkret wird, ist Schluss mit Kirchentagsvisionen. Die Literatur macht uns nichts vor, sondern bringt die Fakten  auf den Punkt.

Durchaus auch in uns allen vertrauten, sog. „klassischen“ Texten. Wie in Shakespeares Othello, wo wir beobachten können, wie ein überaus erfolgreicher, voll integrierter General im Dienste der Republik Venedig, in der Wahrnehmung und im Urteil der Öffentlichkeit innerhalb weniger Stunden zum „Mohren“, Dämon, Hexer und Feind mutiert, nachdem offenbar geworden ist, dass er die Tochter aus einem angesehenen Hause ehelichen will. Die Alarmglocken schlagen offenbar in dem Moment an, in dem Gefahr im Verzug ist, was die „Reinheit der Rasse“ betrifft.

Oder in Lessings Nathan der Weise, wo Versöhnungsrituale im Sinne von Toleranz und Dialog geradezu  exemplarisch vorgeführt werden, bevor ein Missverstehen im Kontext einer geplanten Ehe die Situation kippen lässt und aus Integration der Vorwurf der Tarnung wird: „Der jüdsche Wolf ist entdeckt!“

Oder in Kleists Erzählung Die Verlobung in Santo Domingo, wo der gutgläubige Protagonist sich täuschen lässt und  nicht zögert, seine mulattische Geliebte, die er als Betrügerin zu entlarven glaubt, zu erstechen.

Und ich warne davor, die Sprache einfach so drauf losspringen zu lassen, mit der schärfsten Waffe einfach so herumzufuchteln – gerade in verantwortungsvoller Position. Noch immer, im Medienzeitalter von Twitter und Facebook mehr denn je, gelten die Einsichten Victor Klemperers in seinem Essay über LTI, die Sprache des dritten Reichs:

„Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die (…) Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er  schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.“

Ein Teil des Kampfes gegen Rechts gilt der Rechten. Ein anderer Teil dieses Kampfes aber richtet sich notwendigerweise gegen etwas in uns selbst! – Und daran sollten wir nicht vorbeischauen, sondern diesen Reflex bearbeiten! Und versuchen, ihn zu domestizieren, statt ihn durch Bilder und Worte unbedacht oder vorsätzlich zu stimulieren,

Und wenn wir schon gerade bei den Problemzonen sind, sei eine weitere genannt, – eine grundsätzliche und  gravierende:

Das demokratische System hat eine Achillesverse, eine Schwachstelle, die es extrem verletzlich macht. Das ist seine strikte Rechtsstaatlichkeit.

Sie werden sich sagen, ich überziehe. Dennoch – Fakt ist, dass im Kampf gegen Rechts die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit bisweilen zumindest irritieren:  Wir müssen den Gegner zu Wort kommen lassen, wir müssen ihm Raum geben. Müssen bisweilen mehr als berechtigte Gefühle unterdrücken. Wir wissen das. Und wissen zudem, dass der Gegner, sei es die AfD, sei es der radikale Islam, gleichfalls von dieser Schwäche weiß – und mit ihr strategisch spielt.

So kommt es zu einer gravierenden Asymmetrie der Kampfmittel, der wir nur schwerlich entkommen können, ohne uns selbst in den Rücken zu fallen.

Ich wage es nicht, hier und heute ein Patentrezept, wie man diesem Dilemma entgehen könnte, in den Raum zu stellen. Es ist ein zu heikler Punkt, um ihn vorschnell abzuhaken. Und die Abwägung zwischen dem Anschein der Schwäche und der Selbstsicherheit, dennoch das einzig Richtige zu tun, ist ein mehr als schwieriger Balanceakt. Ist eine Frage um Sein oder Nicht-Sein.

Wenn wir schon soweit sind, gehen wir noch einen Schritt weiter:

Wenn wir uns dazu entscheiden sollten, unsere Werte zu verteidigen, sollten wir wissen, um welche es sich handelt. Und den Mund nicht zu voll nehmen. Toleranz – Freiheit – – ?

Machen Sie die Probe aufs Exempel und hören sie Politiker gleich welcher parteilichen Provenienz zu: In neun von zehn Fällen wird er im Tonfall bemühter Gediegenheit von der existenziellen Wichtigkeit reden, jetzt, gerade jetzt für die „europäischen Werte“ einzustehen. Sie warten möglicherweise einen winzigen Augenblick darauf, nun auch noch zu erfahren, woran der oder die Sprechende dabei konkret denkt. Oder nein, Sie warten nicht, denn Sie wissen längst – es kommt nichts. Allenfalls nuschelt jemand noch etwas von freier Meinungsäußerung, Rechtsstaat oder Bürgergesellschaft. Er tut dies fast schon im Abdrehen, als wäre es eine lästige Fußnote, ein unnötiger Appendix. Alles ist tausendmal wiederholt, redundant bis auf die Knochen.

In ein paar Jahrzehnten wird man über diesen letzten spürbar angestrengten Versuch, die Neugeburt Europas aus dem Geist des Aufbäumen gegen die Tyrannei Trumps womöglich nachsichtig lächeln. Fakt ist: Wir wissen selbst nicht mehr, was wir meinen, wenn wir von Werten reden. Wir haben keine Werte mehr, weil wir sie mehrfach bis zur Unkenntlichkeit verraten haben, sei es in den KZ’s der Nazis, sei es in dem GULAG der  Stalinisten– alles auf der Grundlage von Ideologien made in Europe. Aber man muss gar nicht die Nazikeule schwingen. Es genügt der Blick in den Rückspiegel der jüngeren Geschichte. Denken wir nur an Srebenica. Oder an die anhaltende, also verstetigte Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre, wo auch keine auch nur halbwegs gemeinsame europäische Haltung festzustellen war, was die Kernfragen betrifft.

Europäische Werte in Europa? Nüchtern betrachtet bleibt nicht sehr viel mehr als der verachtete Euro, bürokratischer Standardisierungswahn, Konsumismus. Sobald ein halbwegs ernstes Problem auftaucht, machen wir einen  Rückzieher. Den Katalanien-Konflikt sieht Europa als eine „innerspanische Angelegenheit“, im Fall der Ukraine, der Krim, der Türkei begnügen wir uns weitgehend mit Protestnoten.

Nein, Werte haben wir wirklich keine mehr anzubieten, dafür eine gut funktionierende Rhetorik der Wertebehauptung. Wir fabulieren uns ein ums andere Mal einen inexistenten Wertekosmos zusammen und nisten uns in ihm ein. Die europäischen Werte stehen für semantisches Leergut, für Wertevakuum pur. Die sinnfreie Formulierung zeigt, dass kein Europäer selbst mehr an das glaubt, was er sagt. Unsere symbolisch-hilflosen Trauergesten nach jedem neuen „heimtückisch-feigen Anschlag“ sagen alles. Wenn wir wieder mehr an uns glauben, wird man uns auch wieder mehr glauben.

Zurück zum Hier und Jetzt: „Was kann man tun, um der Alternative gegen Deutschland“ (wie die Partei richtig heißen müsste) Alternativen für Deutschland und Europa gegenüberzustellen?

Fluchtursachen bekämpfen! Sicher. Ein Wort, das man derzeit in jeder Nachrichtensendung zigmal hört.

Macht auch Sinn – auch wenn man zugleich weiß, dass man sich hoffnungslos übernimmt. Und auch nicht genau weiß, was man will.

Da hatten es die Kolonisatoren leichter: Die wussten, was sie wollten: Land. Sklaven. Gold. Elfenbein.

Vielleicht wäre es die größte Hilfe für Afrika, wenn der Westen und der Osten den Kontinent ausnahmsweise mal für ein paar Jahrzehnte in Frieden ließe. Nichts für ihn, nichts von ihm wollte. Undenkbar. Richtig. Undenkbar. Warum eigentlich? Ach ja: Globalisierung – wie konnte ich das vergessen. Im Ernst, ich wollte heute nicht von dieser Art von Fluchtursachen sprechen. Sondern einer lokaleren: Die Flucht innerhalb Deutschlands: Der Flucht vor  sozialer Ausgrenzung, die  so viele in Richtung Pegida in Bewegung setzt. Wenn wir von dieser Art von Fluchtursachen, die auch eine Fahnenflucht  vor der Demokratie  beinhaltet, sprechen wollen – und ich meine wir sollten es – müssen wir den Fakten ins Gesicht sehen. Wie heißen die Fakten? Wie heißt unser oberster, gottgleich gehandelter Wert, für den der Name des mit Abstand beliebtesten deutschen Politiker steht – nun: Meinungsfreiheit? Gerechtigkeit? Solidarität? Aber nein, er heißt  „Schwarze Null“.

In Mekka verehrt und umkreist man den Schwarzen Stein. Hierzulande betet man parasakral die schwarze Null an.

Wenn dem nicht so wäre, könnte man dem Land mit den angesparten Steuermilliarden ein alternatives Sozialprogramm gönnen, dass den Neid- und Missgunst-Reflex der Abgehängten lindern, wenn nicht kurieren könnte.

  • Insbesondere die Leute, die jetzt noch schwankend in der zweiten Reihe stehen – unsicher ob sie mitgrölen sollen oder zurückfinden wollen
  • Oder sich aufs Dümmlichste provozieren lassen sollen, B. in dem man ihnen im Ruhrpott ihren Schrebergarten wegnimmt, um ausgerechnet dort ein Flüchtlingsheim zu platzieren.

Es gilt jetzt Konzepte zu entwickeln, um schrecklich entvölkerte Gebiete in Ostdeutschland wieder aufzuforsten. Kulturell blühende Landschaften zu schaffen, vielleicht wie seinerzeit mit den Hugenotten. Experimente zu wagen. Phantasie in Gang zu setzen. Paragraphen, die im Weg stehen, auszulöschen.

Kampf gegen rechts heißt auch Kampf gegen die eigene Unbeweglichkeit im Kopf.

In unseren Köpfen. Und in denen der Geflohenen: Im Container gehalten werden auch die dumm und böse.

Ach, es gäbe so viele Alternativen zur Alternative. Bitte lassen Sie uns nicht gerade auf die dämlichste und durchschaubarste Variante hereinfallen!

Könnten wir sie zumindest ein wenig ignorieren? Nicht auf jeden gedanklichen Furz alarmiert reagieren?

Könnten wir sie nicht einfach mal auslachen, rauslachen, wenn einer oder eine von ihnen wieder den empörten Märtyrer oder ? Volksvertreter mimt?

Und uns ganz darauf konzentrieren, den säkularen, demokratischen, Sozialstaat, als der wir einmal angetreten sind, auszubauen und zu verwirklichen.

Einen Staat, eine Republik, die sich weder  als Appendix der Religionen noch der Wirtschaft versteht.

Und der akzeptiert, dass er nicht nur Einwanderungsland, sondern auch Durchzugsraum ist – wie ganz Europa es seit je war!

Grenzen stehen dem nur im Weg und können, wie die Erfahrung gelehrt hat, mittelfristig nichts bewirken.

Mithin eine Republik, die auf sich hält und sich nicht von Ländern, politischen Hochstaplern und Falschspielern verunsichern lässt – koste es was es wolle. Ja. Koste es was es wolle!

Und die zu allererst über sich selbst nachdenkt. Nicht ein „make Germany great again“ ist die Devise der Stunde, sondern allenfalls ein „make Germany more clever than ever.

Hölderlin sagt es sehr viel besser und genauer, bereits 1801:

„Das Eigene will genauso gelernt sein wie das Fremde!“

Integrationskurse für  uns selbst – keine schlechte Sache!

jw

Wertheimer Alternative

Jubiläum am historischen Ort mit Genehmigung von Monica Brana

Die AfD pöbelt heute im Bundestag …