diesjährigen Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus und der braunen Gewaltherrschaft
21. November 2022
am Totensonntag,
20. November 2022, 10:00 Uhr,
vor dem Mahnmal
Friedhof Unter den Linden, Reutlingen.
Lothar Letsche
Ansprache auf dem Reutlinger Friedhof „Unter den Linden“
20.11.2022
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr Keck,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
wir stehen vor der Grabstätte von 128 Häftlingen aus 15 Nationen, deren Leichname aus den
KZ-Außenlagern Hailfingen/Tailfingen, Bisingen, Dautmergen und Schömberg im Reutlinger
Krematorium zwischen Oktober 1944 und Januar 1945 verbrannt wurden. Auf einer Tafel, die
2010 von der Stadt angebracht wurde, stehen ihre Namen. Ihrer wollen wir heute zuerst
gedenken. Für die letzte Anstrengung der Nazis, das Ende des von ihnen vom Zaun
gebrochenen Zweiten Weltkriegs hinaus zu zögern, mussten diese Menschen sich zu Tode
schuften. „Herzmuskel- und Kreislaufschwäche“ standen auf ihren Totenscheinen. Hunger
und Entkräftung waren der wirkliche Grund.
Zwischen Rottenburg-Hailfingen und dem heutigen Gäufelden-Tailfingen wurde von 700
meist jüdischen Arbeitskräften, die aus Auschwitz angefordert wurden, unter mörderischen
Bedingungen ein Flugfeld gebaut. Die anderen KZs gehörten zum Projekt „Wüste“. Das war
ein Versuch, für den erhofften „Endsieg“ aus dem Steinschiefer noch irgendwie Erdöl
herauszuholen.
In Hailfingen-Tailfingen hatten 99 der hier Beigesetzten den Tod gefunden. 15 weitere
endeten im Krematorium Esslingen, 75 in einem Massengrab bei der Landebahn und später
auf dem Tailfinger Friedhof.
Der Reutlinger Totengräber berichtete später, wie es ablief:
„In der Zeit von etwa August/September 1944 bis 14. Januar 1945 kam etwa jede Woche mit
nur kurzen Unterbrechungen (Montag oder Samstag) ein Lastwagen der Organisation Todt
und brachte 10-12 Holzkisten enthaltend je zwei nackte männliche Leichen. (. .. ) Die
Transporte wurden von einem SS-Offizier geleitet und von 4 Männern begleitet …. Diese
Häftlinge verbrachten die Kisten mit den Leichen ins Krematorium. (. . .) Die Verbrennung
dieser Leichen erfolgte immer getrennt von anderen Verbrennungen.
Trotz [anderslautenden] Befehls zerstreuten [wir] die Asche der Häftlinge nicht, sondern
sammelten die Asche und verbrachten sie in ein Grab der Abteilung Y des städt[ischen]
Friedhofs. Nachdem das erste Grab gefüllt war, wurde ein zweites Grab angelegt. […] Am 15.
Januar wurde das Krematorium durch Luftangriff beschädigt und stillgelegt. Die beiden
Aschengräber wurden zugedeckt und wie andere Gräber gerichtet und gepflegt.“ Später
wurden sie an die heutige Stelle umgebettet.
Ich möchte ein Gedicht vortragen aus einem 1948 erschienenen Gedenkbuch für „Die Toten
von Dachau“. Es ist von Josef Eberle. Er war von 1945 bis 1971 Mitherausgeber der
„Stuttgarter Zeitung“, und ist eher bekannt als Autor schwäbischer Mundartgedichte unter
dem Namen Sebastian Blau. 1933 war er zeitweise auf dem Heuberg inhaftiert. 1936 bekamVVN-BdA Reutlingen Gedenkfeier 20.11.2022 2
er Schreibverbot als Schriftsteller. Um kurz vor dem Kriegsende seine jüdische Frau Else
Lemberger vor dem Bombenkrieg und der Deportation zu bewahren, versteckten sich die
beiden im heute nicht mehr bestehenden Bahnhof Stuttgart-Wildpark, dessen Vorsteher sie
schützte. Erst Jahrzehnte später wurde das öffentlich gemacht – vor kurzem wieder in einem
Fernsehfilm über Eisenbahner im Widerstand.
„Die Toten an die Lebenden“ ist es überschrieben.
Ihr habt es nicht gewusst, was uns geschehen?
So hoch war nicht der Lagerzaun, so stumm
das Sterben nicht, dass unser Hilfeflehen
im Kampf der Schüsse musste untergehen …
Ihr habt es nicht gewusst – warum? warum?
Ihr hörtet nicht den Schrei der Totenkammern,
der welterschütternd bis zum Himmel stieg,
der Kinder Wimmern und der Alten Jammern,
mit dem sich Sterbende ans Leben klammern –
ihr hörtet nichts. Ihr brülltet Heil und Sieg!
Ihr sahet nicht die Berge unsrer Leichen
und nicht der Öfen himmelhohe Glut,
den Hunger nicht und nicht die Angst der bleichen
Gesichter und der Leiber Folterzeichen –
ihr saht bewundernd nur den Gesslerhut.
Ihr rocht auch nicht den Brandgeruch der Essen,
denn eure Sinne waren abgestumpft.
Und rühmtet ihr euch nicht – habt ihr’s vergessen? –
des Herzens Härte am Granit zu messen?
Ihr habt euch – wir sind Zeugen! – übertrumpft.
Ihr wusstet nichts. Lasst uns den Streit beenden:
Es sei! Wir führen nicht wie Krämer Buch.
Die Zukunft aber liegt in euren Händen,
an euch ist’s, unser Leid zum Glück zu wenden —
wir spenden beides: Segen oder Fluch ….
Das Denkmal, vor dem wir stehen, hat 1952 der Reutlinger Bildhauer Richard Raach
geschaffen. Da steht: „Den Opfern der Gewalt“. Es dauerte 58 Jahre, bis am 7.6.2010 die
Tafel mit den Namen der hier Bestatteten und den Umständen ihres Todes von der
Oberbürgermeisterin Barbara Bosch eingeweiht wurde.
Wie das ablief, das ist ein Stück Geschichte der Erinnerungskultur, aber auch der
Organisation, die diese Gedenkfeier durchführt, der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes, die heute den Zusatznamen Bund des Antifaschistinnen und Antifaschisten
führt.VVN-BdA Reutlingen Gedenkfeier 20.11.2022 3
Am 30. August 1947 wurde die VVN für das Gebiet Württemberg-Hohenzollern im
„Museum“ in Tübingen gegründet. Mein Vater Curt Letsche war mit dabei.
So wurden damals die Aufgaben der VVN definiert:
„1. Die breitesten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Jugend über die faschistischen
Verbrechen zu unterrichten,
2. den tapferen offenen Kampf der deutschen Widerstandsbewegung aufzuzeigen und zu
würdigen,
3. den Kampf gegen alle ideologischen Reste des Nazismus, des Militarismus und der
Rassenlehre systematisch zu führen, um dadurch den Völkerfrieden zu sichern und jeden
Versuch neuer faschistischer Betätigung zu unterbinden,
4. die Zusammenarbeit aller antifaschistischen, demokratischen Kräfte zu stärken und
aufzubauen.“
Dementsprechend breit waren die damaligen Gedenkfeiern angelegt. Damals bemühten sich
viele Deutsche, Mitglied in der VVN zu werden, war das doch ein Leumundszeugnis für
nichtfaschistische Haltung.
Aber der Kalte Krieg, die Spaltung Deutschlands, die damit verbundenen Konflikte machten
natürlich keinen Bogen um die VVN. Der SPD-Vorstand verfügte 1948 einen
Unvereinbarkeitsbeschluss, der formal bis 2010 galt.
Im Kabinett des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der im Bundeskanzleramt von
hochbelasteten früheren Nazis umgeben war wie dem Kommentator der Nürnberger
„Rassengesetze“ Hans Globke, stand am 3. Februar 1950 sogar der Punkt „Spaltung der
VVN“ auf der Tagesordnung.
Eine solche Abspaltung hatte in Tübingen bereits im März 1948 stattgefunden. Einige
Vorstandsmitglieder traten aus der VVN aus, weil sie eine kommunistische Linie verfolge und
sich nicht auf Betreuungsaufgaben beschränke. Das „Schwabenecho“, das Organ des
Vorläufers der FDP, verkündete in seiner Ausgabe vom 16.03.1948 „das Ende der VVN
Südwürttembergs“. Es wurde versucht, den sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär
Albert Blon aus Reutlingen dafür zu vereinnahmen. Der wandte sich gegen die Verwendung
seines Namens und „gegen die Spaltung der VVN in Parteirichtungen“ und dagegen, in einem
solchen Rahmen „ihn für die SPD vorzuschlagen.“ Er sei Sozialdemokrat, „aber in der VVN
ist er zunächst Kamerad“, heißt es im entsprechenden Sitzungsprotokoll. Albert Blon ließ sich
als 2. Vorsitzender in den VVN-Landesvorstand nachwählen.
Es folgte 1950 der „Adenauer-Erlass“ – ein direkter Vorläufer der späteren Berufsverbote. Er
bereitete nicht nur das KPD-Verbot vor, sondern richtete sich auch ausdrücklich gegen die
VVN. Beamte und andere Beschäftigte des Staates, die dort Mitglied waren, wurden vor die
Entscheidung gestellt: entweder die VVN zu verlassen oder Entlassung.
Vielleicht war das für eine solche Persönlichkeit wie den vorhin mit dem Gedicht zitierten
Josef Eberle ein Grund für seine spätere publizistische Zurückhaltung in solchen Fragen.
Das war die Situation, als die VVN am 8.10.1951 bei der Stadt Reutlingen die würdige
Beisetzung der Asche der KZ-Häftlinge beantragte. Die Organisation wurde damals
repräsentiert von Fritz Wandel, KPD-Stadtrat und nach der Befreiung einer der drei
Stellvertreter des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Oskar Kalbfell. Wandel war der
Hauptredner der Kundgebung am 30. Januar 1933 beim Mössinger Generalstreik gegen dieVVN-BdA Reutlingen Gedenkfeier 20.11.2022 4
Machtübertragung an Hitler gewesen. Nach seinem Rückzug aus politischen Ämtern wegen
Gesundheitsproblemen im Jahr 1948 arbeitete er bei der Friedhofsverwaltung. Zusammen mit
Emil Bechtle und Albert Fischer hatte er den Reutlinger VVN-Kreisverband gegründet. Alle
waren sie selber durch die Hölle von Nazi-KZs geschleppt worden.
Die Verwaltungsabteilung der Stadt Reutlingen war der Meinung, die würdige Ausgestaltung
eines solchen Mahnmals sei eine Selbstverständlichkeit. Die Technische Abteilung überwies
die Sache aber an den Gemeinderat, der es am 28.02.1952 behandelte. Dort kam sofort
Gegenrede: für „diese Art Kriegsopfer“ gebe es doch bereits ein Mahnmal in Bisingen. In der
Tat – das hatte die französische Besatzungsmacht errichten lassen und bis 1990 kümmerten
sich die Franzosen auch darum.
In Reutlingen müsse eine – Originalton – „wirkliche Gedenkstätte“ für „alle Opfer des
Nationalsozialismus“ errichtet werden, hieß es von Gemeinderatsmitgliedern, wozu „auch alle
im Krieg Gefallenen und alle diejenigen, die in Kriegsgefangenschaft und auf der Flucht bzw.
bei der Ausweisung aus ihrer Heimat ums Leben gekommen sind“. Die Reutlinger
Aschenreste der KZ-Opfer solle man nach Bisingen abtransportieren. Einer der Redner nannte
das – mit Recht – „eine kolossale Beleidigung der Opfer des Faschismus“. OB Kalbfell
versuchte zu beschwichtigen und sprach von „Teilereignissen aus einem furchtbaren
Geschehen“. Die in Reutlingen Verbrannten könne man nicht woanders hin verlegen. Um
aber keiner „Pietätlosigkeit gegenüber anderen Kriegsopfern“ geziehen zu werden, wies der
OB auf ein damals erst noch zu errichtendes „Kriegerdenkmal“ hin. Einige Stadträte
beteuerten sehr heftig, von den Verbrennungen im Reutlinger Krematorium und überhaupt
von den Naziverbrechen hätten sie erst nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft
erfahren. Für „alle Opfer der Unmenschlichkeit“ solle „nur ein einziges Denkmal errichtet
werden“. Zitat: „Wir leben in einer sehr schnellen und kurzlebigen Zeit! Wer weiß, wie man
in 5 oder 10 Jahren über einen solchen Beschluss des Gemeinderats denken würde.“
OB Kalbfell erinnerte daran, dass die Rede sei von „Taten, die von Deutschen planmäßig
durchgeführt wurden, während in den anderen Fällen fremde Mächte die Verantwortung zu
tragen haben“. Der bereits erwähnte SPD-Stadtrat Albert Blon erinnerte „die FDP daran, dass
auch aus ihren Reíhen Männer in den KZs waren“. Ein Stadtdirektor erinnerte daran, dass
„die Menschen, die in Frankreich, Russland usw. umgekommen sind, […] nicht auf dem
Friedhof in Reutlingen begraben“ sind. Diejenigen, die hier verbrannt wurden, seien
„lediglich aus ihrer politischen Gegnerschaft in die Lage gekommen. Man hat sie
systematisch beseitigt.“ Der Gemeinderat habe hier heute und nicht irgendwann später eine
Aufgabe zu erfüllen.
Trotzdem wurde von der Mehrheit darauf insistiert, „alle Opfer des Nationalsozialismus in
einer Tafel zu vereinigen“. Mit 11 zu 9 Stimmen wurde das Mahnmal in der ursprünglichen
Form beschlossen. Keinerlei Namen wurden damals genannt.
So oder ähnlich lief das leider nicht nur in Reutlingen ab. Noch jahrzehntelang.
Wenn die VVN sich gegen solche Formen der Verdrängung und des Beschweigens der
Mitverantwortung für die Verbrechen des deutschen Faschismus öffentlich wehrte, konnte es
da und dort geschehen, dass ein öffentliches Gedenken verboten oder die VVN explizit
ausgeschlossen wurde. Oder sie mit ihren eigenen Gedenkfeiern isoliert da stand.
IV.VVN-BdA Reutlingen Gedenkfeier 20.11.2022 5
Hailfingen-Tailfingen betreffend, begann erst in den 1980er Jahren die wirkliche
Aufarbeitung der Geschichte dieses KZ. Bei den Namen der Opfer wollte die Stadt
Reutlingen es lange Zeit bewenden lassen mit einem Eintrag im offiziellen Gedenkbuch. Erst
als Angehörige der jüdischen Opfer vergeblich nach Spuren auf dem Friedhof suchten, nach
langen und schwierigen Debatten, wurde der Forderung der VVN-BdA, des Vereins „Gegen
Vergessen – Für Demokratie e. V.”, des DGB, der SPD, und der GRÜNEN endlich
entsprochen, an dem Grabmal selbst die Namenstafel anzubringen.
Von Anfang an hat die VVN alljährlich die Gedenkfeiern an diesem Grab ausgerichtet. Die
Stadt Reutlingen ist wieder beteiligt. Diese Gedenkfeier zu einem allgemeinen
Kriegsgedenken umzudeuten oder damit zu vermischen, wäre nicht nur für die VVN-BdA
indiskutabel.
Es ist gut, dass die Erinnerung an die an die Naziopfer und den Widerstand schon lange kein
Alleinstellungsmerkmal der VVN mehr ist, dass antifaschistische Erinnerungsarbeit heute –
wieder! – ein breites zivilgesellschaftliches Anliegen ist, dem sich viele Menschen
verpflichtet fühlen und für das sie sich engagieren.
V.
Die Gründerinnen und Gründer der VVN wollten verhindern, dass jemals wieder ein Krieg
von deutschem Boden ausgeht. Das steht auch im „2 plus 4“-Vertrag von 1990.
Was hätten die Überlebenden der Naziverfolgung zur heutigen Weltlage gesagt?
1999 zum Bombenkrieg auf Jugoslawien, um angeblich ein „neues Auschwitz“ zu verhindern,
gab es deutliche Worte von jüdischen Überlebenden des Holocaust: „Erst Faschismus und
Krieg hatten Auschwitz möglich gemacht.“
Die Ereignisse in der Ukraine, nicht erst seit dem russischen Angriff am 24. Februar, hätten
unsere Gründergeneration zweifellos sehr bekümmert. Es war die Rote Armee gewesen, mit
Russen, Ukrainern und vielen anderen Nationalitäten der Sowjetunion, die Auschwitz,
Sachsenhausen, Ravensbrück und viele andere Nazi-KZs befreite. Zweifellos hätten unsere
Gründerinnen und Gründer den Einsatz aller, wirklich aller diplomatischen Möglichkeiten,
auch und gerade Deutschlands mit seiner Geschichte, gefordert, damit unverzüglich die
Waffen schweigen, damit das Schießen, Töten und Sterben sofort aufhört, und die zugrunde
liegenden Konflikte anders gelöst werden. „Nicht den Krieg, sondern den Frieden gewinnen“,
habe ich gestern als Motto von Henning Zierock auf einem Transparent in Tübingen gelesen.
Lasst uns im Sinne der Überlebenden gemeinsam weiterhin zusammen wirken gegen
Nazismus, Rassismus, Antisemitismus. Nationalismus, für Frieden und Demokratie – nicht
nur bei Gedenkfeiern und bei der Geschichtsarbeit, sondern auch in politischen
Veranstaltungen und Kampagnen, und wenn es sein muss, auf der Straße.