Tübinger Aufruf „Bleiberecht statt Abschiebung“
7. März 2020
Tübinger Aufruf „Bleiberecht statt Abschiebung“
Seit der Verabschiedung des „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“ im Sommer 2019 setzt die Bundesregierung noch mehr auf Abschiebung als bisher. Von Abschiebung bedroht oder betroffen sind auch viele Geflüchtete, die gut in Deutschland integriert sind und sich in Ausbildung oder Arbeit befinden. Wir fordern einen anderen Umgang mit Menschen, die zur Flucht vor Kriegen, Menschenrechtsverletzungen, Elendsverhältnissen oder Umweltzerstörung gezwungen waren. Statt einer Politik und Verwaltungspraxis, die möglichst hohe Abschiebungszahlen erzeugt, wollen wir, dass jeder Einzelfall wohlwollend auf eine Bleibeperspektive geprüft wird.
Dafür braucht es auch bessere Gesetze! Die mit dem Migrationspaket eingeführte und seit Januar 2020 geltende Beschäftigungsduldung (§ 60d Aufenthaltsgesetz) ist viel zu restriktiv. Das Gesetz führt dazu, dass nur sehr wenige Personen mit Duldung, die gut integriert sind und ihren Lebensunterhalt selbst sichern können, tatsächlich bleiben dürfen. Vor allem fehlt dieser Regelung die Rechtssicherheit, die die Arbeitgeber*innen brauchen und gefordert haben. Die großzügigere Erlaubnis für Arbeit und Ausbildung mit Bleiberecht führt auch dazu, dass diese Menschen ihren Lebensunterhalt selbst sichern können und dass Desintegrationsprozesse vermieden werden.
Deswegen fordern wir von der grün-schwarzen Landesregierung von Baden-Württemberg,
1. dass niemand aus Baden-Württemberg abgeschoben wird, der/die eine Ausbildung absolviert oder eine feste Arbeitsstelle hat, schon gar nicht in Kriegs- und Krisenländer.
2. dass sie sich ernsthaft dafür einsetzt, dass das Gesetz zur Beschäftigungsduldung (§ 60d Aufenthaltsgesetz), das zum 1.1.2020 eingeführt wurde, umgehend verbessert wird.
Konkret bedeutet dies vor allem,
– dass es reicht, wenn die Identität bis zum Antrag für die Beschäftigungsduldung geklärt ist und von daher die im Gesetz aufgeführten unterschiedlichen Fristen, bis zu denen die Identität geklärt sein muss, verzichtbar sind (Abs. 1 Nr. 1)
– dass die Regelung, dass ein Antrag auf eine Beschäftigungsduldung erst 12 Monate nach Erhalt einer Duldung gestellt werden darf, ersatzlos gestrichen werden muss (Abs. 1 Nr. 2)
– dass statt der im Gesetz vorgeschriebenen 18 Monate vorheriger Beschäftigungsdauer eine vorherige Beschäftigungszeit von 6 Monaten ausreichend ist, wenn die Probezeit zu Ende ist und der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis fortsetzt (Abs. 1 Nr. 3).
– Lebensfremd und zynisch ist, die vollständige Lebensunterhaltssicherung als k.o.-Kriterium zu verlangen. Dies dürfte vor allem bei Familien und teuren Nutzungsgebühren in Anschlussunterkünften unmöglich sein. Es sollte auch nicht erforderlich sein, dass die wöchentliche Beschäftigungszeit mindestens 35 Stunden dauert. Es sollte reichen, wenn durch die Arbeit der Lebensunterhalt überwiegend gesichert werden kann (siehe Abs. 1 Nr. 5).
– dass nicht bereits dann die Beschäftigungsduldung entzogen und in Folge die Aufenthaltsbeendigung betrieben wird, wenn auch nur eine der elf Voraussetzungen nicht (mehr) erfüllt werden (Abs.3), sondern dass den Betroffenen mit großzügigen Fristen die Chance gegeben wird, die fehlende Voraussetzung (wieder) zu erfüllen und so lange eine sog. Ermessensduldung erteilt wird.
3. dass großzügig eine sog. Ermessensduldung erteilt wird, wenn jemand nicht sämtliche Anforderungen der Beschäftigungsduldung erfüllen kann.
4. dass allgemein bei der Erfüllung der Mitwirkungspflichten bei Identitätsklärung und Passpflicht im Zusammenhang mit dem Erhalt einer Beschäftigungserlaubnis viel maßvoller vorgegangen wird. Wer als Geduldete/r seine / ihre Identität durch Vorlage von gültigen Identitätsdokumenten geklärt hat, sollte nicht mit einem Beschäftigungsverbot sanktioniert werden, weil die Passpflicht (noch) nicht erfüllt ist. Wir wollen, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe und die lokalen Ausländerbehörden mit jedem Antrag auf Beschäftigungserlaubnis und den diesbezüglichen Anliegen von Betroffenen und deren Anwält*innen und Unterstützer*innen wohlwollend und unterstützend umgehen.
Wir fordern die grün-schwarze Landesregierung auf, unseren Forderungen entsprechende Regelungen bei der geplanten Bundesratsinitiative vorzubringen und soweit möglich bereits im Vorgriff auf Landesebene per Ministerialerlass einzuführen.
Von unseren lokalen Behörden und Ämtern fordern wir, dass sie sich aktiv für Bleibemöglichkeiten statt Abschiebung einsetzen!
Erst-Unterzeichner*innen:
Bündnis Bleiberecht Tübingen
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der AntifaschistInnen Tübingen-Mössingen
Jugendmigrationsdienst Tübingen
Arbeitskreis ehrenamtliche Flüchtlingshilfe Weststadt Tübingen
Offene Kirche Tübingen
DIE LINKE Kreisverband Tübingen
attac Tübingen
DGB Kreisverband Tübingen
Freundeskreis Asyl Schellingstraße (FAS) Tübingen
adis e.V.
Fluchtpunkte e.V.
Bruderhausdiakonie – Projekt NIFA
Wählervereinigung Tübinger Linke – TüL
Ract!festival
move on – menschen.rechte Tübingen e.V.
Flüchtlinge am Werk e.V.
Lebenshaus Schwäbische Alb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.
Kritische Uni Tübingen
Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e.V.
Katholische Gesamtkirchengemeinde Tübingen – Stadtdiakonat
AK Asyl Südstadt Tübingen
Epplehaus Jugendkulturzentrum Tübingen
Asylzentrum Tübingen e.V.
Unterstützerkreis Asyl Dußlingen
AK Europastraße Tübingen
Wegrand-Stiftung Tübingen
Fachschaften-Vollversammlung
Gesellschaft Kultur des Friedens
Offenes Treffen gegen Faschismus und Rassismus Tübingen/Reutlingen (OTFR)
Stand: 6.3.2020
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Pressemitteilung 9.3.2020
Bündnis Bleiberecht startet überregionalen Aufruf für „Bleiberecht statt Abschiebung“
Rund 30 Organisationen aus dem Raum Tübingen sind Erstunterzeichner eines Aufrufs, mit dem bessere Regelungen für ein Bleiberecht von gut integrierten Geflüchteten gefordert werden. Das breite Bündnis aus Organisationen der Flüchtlingshilfe, Antirassismus, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden fordert vor allem Verbesserungen bei der im Januar 2020 eingeführten Beschäftigungsduldung. Diese soll die Landesregierung in eine Bundesratsinitiative einbringen. Für den von Tübingen ausgehenden Aufruf werden über die Online-Plattform Open Petition in ganz Baden-Württemberg Unterschriften gesammelt.
Langfassung:
In dem „Tübinger Aufruf Bleiberecht statt Abschiebung“ wird vor allem das seit Januar 2020 geltende Gesetz für eine „Beschäftigungsduldung“ (§ 60 d Aufenthaltsgesetz) kritisiert. Diesem Gesetz fehle die Rechtssicherheit, die die Arbeitgeber*innen brauchen und gefordert haben. Nur wenige Menschen, die gut integriert sind und einen Arbeitsplatz haben, dürften tatsächlich bleiben, weil die in das Gesetz eingebauten Hürden viel zu hoch seien. Dies zeigen auch die bislang vorliegenden Zahlen. Seit die Landesregierung im März 2019 eine Vorgriffsregelung eingeführt hat, erhielten laut Innenministerium nur 35 Personen in Baden-Württemberg eine solche Beschäftigungsduldung (Stand Januar 2020, vgl. Landtagsdrucksache 16/7435).
Laut Medienberichten hat sich die Grüne-CDU-Landesregierung nach einem längeren Streit in der letzten Woche darauf geeinigt, über eine Bundesratsinitiative Verbesserungen am Gesetz zur Beschäftigungsduldung einzubringen. Details sind jedoch bisher keine bekannt. Der Aufruf „Bleiberecht statt Abschiebung“ enthält umfangreiche Vorschläge für inhaltliche Verbesserungen dieses Gesetzes, an denen die Bundesratsinitiative der Landesregierung gemessen werden soll.
Der Aufruf befindet sich seit 6. März als Online-Petition im Internet. Die Initiatoren wollen über den Kreis Tübingen hinaus Unterschriften sammeln und gehen davon aus, dass die Petition in ganz Baden-Württemberg übernommen wird. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg gehört als landesweite Organisation bereits zu den Erstunterzeichnern.
Internetlink zur Petition:
https://www.openpetition.de/petition/online/tuebinger-aufruf-bleiberecht-statt-abschiebung
https://www.openpetition.de/!bsa
Mehr Informationen:
03.03.2020 menschen.rechte Tübingen e.V.: Erst integrieren, dann abschieben? Streit im Ländle um das Bleiberecht
06.03.2020 Flüchtlingsrat Baden-Württemberg: Weiterhin keine Sicherheit für Betroffene und Arbeitgeber*innen. Flüchtlingsrat enttäuscht von „Einigung“ der Landesregierung zum Thema „Bleiberecht“
Link zur Homepage der Unternehmerinitiative Bleiberecht durch Arbeit