Antikriegskundgebung 4.März 2022 in Tübingen auf dem Holzmarkt
4. März 2022
Rede Jens Rüggeberg (Friedensplenum/Antikriegsbündnis Tübingen)
„Was soll man denn anderes machen?“ Das ist der Satz, den ich in den letzten Tagen am häufigsten gehört habe, von Bekannten, von Kolleginnen, von Kollegen, das sagen sie, angesprochen auf die Waffenlieferungen an die Ukraine, auch aus Deutschland, und angesprochen auf die massive und für mich erschreckende Aufrüstung der Bundeswehr, die jetzt geplant ist.
„Was soll man denn anderes machen?“ Dieser Satz scheint mir Ausdruck zu sein von Hilflosigkeit. Wer ihn sagt, zuckt dazu die Achseln und fügt hinzu: „Das kann man doch Putin nicht durchgehen lassen, sonst stehen wir als Schwächlinge dar, und er macht dann immer weiter. Und irgendwann sind dann womöglich wir selbst dran.“
Solche Äußerungen sind aber nicht nur Ausdruck von Hilflosigkeit, sondern auch von Uninformiertheit. Die ganze Vorgeschichte wird ausgeblendet. Sie ist ja auch meistens gar nicht bekannt. Und sie wird als irrelevant betrachtet, angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Man will von der Vorgeschichte nichts wissen. Dabei ist es wichtig, sie zu kennen, um zu verstehen, was gerade passiert. Sie macht den Überfall Russlands zu einem Ereignis, das nicht vom heiteren Himmel gefallen ist. Die Kenntnis der Vorgeschichte führt allerdings nicht dazu, dass der russische Angriff auf die Ukraine zu billigen oder zu rechtfertigen wäre. Er muss sofort gestoppt werden. Die russische Armee muss unverzüglich die Kampfhandlungen einstellen und sich zurückziehen – und die ukrainischen Bewaffneten müssen ebenfalls sofort die Kampfhandlungen einstellen. Dem Minsker Abkommen muss endlich Geltung verschafft werden!
Das erste, was nach dem russischen Angriff passierte, war, dass unter den männlichen Einwohnern Kiews 18.000 Kalaschnikows verteilt wurden. Ein Wahnsinn! Und jetzt liefert alle Welt der Ukraine Panzerabwehrwaffen, Handgranaten und viele andere Kleinwaffen und große Waffen. So gießt man Öl ins Feuer! Und verlängert das Blutvergießen! Die Zivilbevölkerung ist das Opfer und flieht. Will die NATO aus der Ukraine ein neues Afghanistan machen? Wie damals, als der Westen die Mudschahedin bewaffnete, um der Roten Armee einen Partisanenkrieg zu bereiten? Wir fordern: Keine Waffenlieferungen an die Ukraine!
Die gigantische Aufrüstung der Bundeswehr wäre ohne den jetzigen Ukraine-Krieg politisch nicht durchsetzbar gewesen. Jetzt aber hat die Bundesregierung einen Vorwand gefunden – man müsse sich doch verteidigen. Und größere Teile der Bevölkerung scheinen einverstanden zu sein mit der Aufrüstung und den mit ihr wahrscheinlich verbundenen Kriegsplanungen. Wenn eine Armee massiv aufgerüstet wird, muss man nämlich immer fragen: Gegen wen richtet sich das? Wer soll eingeschüchtert, bedroht oder angegriffen werden? Die Antwort liegt auf der Hand: Um gegen die Islamisten in Mali vorzugehen, braucht man eine solche Aufrüstung nicht. Also geht es um Russland und China. Da machen wir nicht mit!
Die Regierenden haben es immer einfach, Aufrüstung und Krieg zu rechtfertigen, wenn es gegen angebliche oder tatsächliche Bösewichter geht. Die hatte man 1999 in Serbien und 1990 und 2003 im Irak. Saddam Hussein hatte Giftgas in kurdischen Siedlungsgebieten im Nordirak einsetzen lassen und Tausende Menschen dadurch umgebracht, Tausende politische Gefangene wurden im Irak ermordet, darunter fast sämtliche Kader der kommunistischen Partei, und Kuwait wurde überfallen und besetzt. Trotzdem war es richtig, dass wir als Friedensbewegung 1990 und 2003 gegen den Krieg gegen den Irak protestierten. „Regime change“ ist völkerrechtswidrig und nicht zu rechtfertigen, egal, gegen wen es sich richtet.
„Regime change“ hat im Westen eine lange Tradition. Nur ein paar Stichworte: Iran, Chile, Serbien, Ukraine 2014, Irak, Syrien (dort allerdings gescheitert). Jetzt scheint die russische Führung das in der Ukraine auch anzustreben. Wir als Friedensbewegung haben das Recht und die Pflicht, das zu kritisieren. Die NATO nicht. Denn die hat es selber oft genug gemacht.
Zum Schluss ein Blick in die Geschichte. Ich zitiere aus dem Protokoll des SPD-Parteitags 1907, Seite 255 – aus einer Rede von August Bebel:
„Genosse David hat, wie ich aus dem Bericht ersehe, bestritten, dass ich das Wort, ich sei bereit, noch in meinen alten Tagen die Flinte auf den Buckel zu nehmen, in Bezug auf einen Krieg mit Russland gesagt hätte. Und doch habe ich es so gesagt und nicht anders. Vor zirka sieben Jahren führte ich aus, dass, wenn es zu einem Kriege mit Russland käme, das ich als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten nicht nur im eigenen Lande, sondern auch als den gefährlichsten Feind von Europa und speziell für uns Deutsche ansähe, auf den sich in erster Linie die deutsche Reaktion stützt, dann sei ich alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen.“
Das hat die SPD paralysiert, als es dann wirklich zum Krieg kam. Ergebnis: Im Dezember 1914 hat nur ein einziger Reichstagsabgeordneter gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt, nämlich Karl Liebknecht. Wir hoffen, dass jetzt, wo es erneut um die Bewilligung von Kriegskrediten geht, die antimilitaristische und pazifistische Opposition von links im Bundestag deutlich stärker ist als 1914!
Die Waffen in nieder!