Hunderte von Nazi-Opfern auf dem Tübinger Stadtfriedhof
12. März 2024
Beitrag auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs am 11. März 2023
Anton Josef Mattes, Metallarbeiter aus Singen, Kommunist, verhaftet im belgischen Exil, vom Amtsgericht Karlsruhe zum Tode verurteilt, schrieb am Vorabend seiner Enthauptung in Stuttgart einen Abschiedsbrief an seinen Bruder Daniel:
Stuttgart, den 22. Juni 1942
Lieber Bruder!
Für Dein bemühen und Deine Sorgen für Dein bestes tun, dass Du für mich unternahmst für Deine Aufopferung für Deine liebe die Du mir entgegengebracht hast danke ich Dir nun zum letzten mal. Mein Wunsch ist, dass es Dir und Deiner Familie in der Zukunft ins gute vergelten wird. Der Stab ist trotz alledem über mich endgültig gebrochen worden. In einigen Stunden muss ich Sterben. Ich werde Sterben wie ich gelebt habe und dasselbe ist ja Euch am besten bekannt. Ich hätte gerne wenn Ihr mir die Freunde von Singen und dem Meister bei dem ich zuletzt gearbeitet habe, grüssen würdet ja alle die Freunde und Kameraden mit denen ich teile die Jugend und mein Leben verbracht habe, ja grüsst alle und sage ihnen ein Lebwohl. Nun Daniel Adieu und seit gegrüßt alle von Deinem Bruder und Eurem Freund
gez. Anton
Was hat Anton Mattes mit diesem Ort zu tun, an dem wir hier stehen, dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs? Seine sterblichen Überreste liegen hier unter diesen Rasenflächen, zusammen mit den sterblichen Überresten hunderter weiterer Naziopfer.
Von 1849 bis 1963 wurden hier die Überreste der Leichen bestattet, die in der Anatomie der Universität der Ausbildung von Medizinern oder der Forschung gedient hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die verschiedenen Abteilungen des Stadtfriedhofs mit Buchstaben bezeichnet; dieses hier, das Gräberfeld der Anatomie, erhielt den Buchstaben X. Während der Nazizeit wurden auch die Leichen von Naziopfern in die Anatomie geliefert; im Universitätsarchiv sind die Leicheneingangsbücher erhalten, die darüber Auskunft geben. Wegen der Ausbildung von Feldärzten, insbesondere von Marineärzten hier in Tübingen, stieg der Leichenbedarf der Anatomie im Zweiten Weltkrieg stark an. Der gewaltförmige Charakter der faschistischen Herrschaft machte es möglich, diesen Bedarf zu decken.
Woher stammten die Leichen? In der grundlegenden Publikation von Benigna Schönhagen findet sich eine Übersicht:
- Hingerichtete (99 Personen)
- Politischer Widerstand
- „Wehrkraftzersetzung“
- „Volksschädlingsverordnung“ und „Heimtückegesetz“
- „Polenstrafrechtsverordnung“
- Fahnenflucht (15 Personen) und Wehrmachtsjustiz
- „Gewaltverbrechen“
- Exekutierte
- Verbotene Freundlichkeit
- Gestapogefängnis Welzheim (16 Personen, alle waren exekutiert worden)
- „Auf der Flucht erschossen“
- Zugrundegerichtete
- Kriegsgefangene und „Fremdarbeiter“ (darunter 156 sowjetische Kriegsgefangene und fast 100 Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter – allein 38 Opfer kamen aus dem Kriegsgefangenenlager auf dem Heuberg)
- Arbeitserziehungslager Aistaig
- Arbeitshaus Vaihingen
- Haftanstalten
- Zuchthaus Rottenburg
- „Heilanstalten“
Auch im „Dritten Reich“ wäre ein Anatom verpflichtet gewesen, Polizei beziehungsweise Staatsanwaltschaft zu informieren, wenn bei einer Sektion der Verdacht aufkam, der Betreffende sei eines nicht natürlichen Todes gestorben beziehungsweise einer Straftat zum Opfer gefallen. Trotzdem ist nur ein einziger Fall bekannt, in dem während des Faschismus in Tübingen Anzeige erstattet wurde – übrigens ohne Folgen, soweit bekannt – und das bei insgesamt 1.078 Leichen, die während des Faschismus in die Tübinger Anatomie eingeliefert worden waren. Und es ist überhaupt nur ein einziger Fall in ganz Deutschland bekannt, in dem ein Mitarbeiter eines anatomischen Instituts während des Faschismus aus Gewissensgründen den Dienst quittierte, nämlich der der Assistenzärztin Charlotte Pommer aus Berlin. Die kündigte nach der Nacht des 22. Dezember 1942, schockiert über die Einlieferung mehrerer noch warmer Leichen unmittelbar zuvor hingerichteter Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern der so genannten „Roten Kapelle“. In der Tübinger Anatomie gab anscheinend niemanden, der so menschlich empfand.
1950 hatte die VVN der Stadtverwaltung einen Vorschlag zur würdigen Gestaltung des Gräberfeld X gemacht, und sie wollte ihn zunächst anscheinend auch annehmen. Aber die Landesregierung warnte die Stadtverwaltung vor einer Zusammenarbeit mit der VVN, und so wurde das Gräberfeld schließlich nach einem Vorschlag des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge gestaltet: Eine schlichte Kreuzigungsgruppe mit den Jahreszahlen 1939 und 1945, kein Hinweis darauf, wer hier bestattet ist, kein Hinweis auf die Opfer des Faschismus. Auffällig ist die Ähnlichkeit mit der Gestaltung der Kriegsgräbergedenkstätte auf dem Bergfriedhof, die im selben Jahr erfolgte. Etwas später, 1960, kam dann eine Gedenktafel hinzu, die allerdings mehr verschleiert als erklärt. Danach geriet das Gräberfeld X für Jahrzehnte in Vergessenheit, bis die VVN 1980 angesichts von Bauarbeiten auf dem Friedhof die Öffentlichkeit alarmierte, weil sie eine Einebnung der Grabanlage befürchtete. Hier vorne stand eine Planierraupe. Erst ab Mitte der 1980-er Jahre wurde die Geschichte der Anatomie und des Gräberfeld X systematisch wissenschaftlich erforscht, und Ende der 1980-er Jahre wurden Tafeln mit den Namen der Naziopfer verlegt – von denen allerdings zahlreiche falsch geschrieben wurden. Ergebnisse neuester Forschungen werden inzwischen auf einer Internetseite des Instituts für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Tübinger Universität präsentiert. Ab dem 17. April 2023 wird das universitäre Forschungsprojekt seine Forschungsergebnisse in einer Ausstellung in der „Alten Anatomie“ in der Österbergstraße präsentieren.
Lasst uns der Opfer gedenken!
Jens Rüggeberg, VVN-BdA Tübingen-Mössingen
Literaturverzeichnis:
Hayes, Oonagh, Gedenken anstoßen? Warum am Gräberfeld X (der Opfer) gedacht wird, in: Hermanns, L. M., und Hirschmüller, A. (Hrsg.), Vom Sammeln, Bedenken und Deuten in Geschichte, Kunst und Psychoanalyse: Gerhard Fichtner zu Ehren, Stuttgart 2013, S. 37-61, im Internet unter ssoar-2013-hayes-Gedenken_anstoen_Warum_am_Graberfeld.pdf (Abruf 5.3.2023)
Hildebrandt, Sabine, The Anatomy of Murder. Ethical Transgressions and anatomical Science during the Third Reich, New York 2016
Orth, Barbara (Hrsg.), Gestapo im OP. Bericht der Krankenhausärztin Charlotte Pommer, Berlin 2013
Schnabel, Bernhard, Das Gräberfeld X und der Umgang mit Opfern des Nationalsozialismus in Tübingen, 2022: Das Gräberfeld X und der Umgang mit Opfern des Nationalsozialismus in Tübingen – Historischer Augenblick (historischer-augenblick.de) (Abruf: 5.3.2023)
Schönhagen, Benigna, Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987, jetzt auch unter Graeberfeld_X.pdf (tuebingen.de) (Abruf: 5.3.2023)
Universitätsstadt Tübingen, Die Toten des Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Ein Gedenkbuch, 2019: graeberfeldx_gedenkbuch.pdf (tuebingen.de) (Abruf: 5.3.2023)
Universitätsstadt Tübingen, Die Toten des Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Ein Verzeichnis, 2019: graeberfeldx_verzeichnis.pdf (tuebingen.de) (Abruf: 5.3.2023)