Kundgebung zum Antikriegstag am 01.09.2020 auf dem Tübinger Holzmarkt

5. September 2020

Lothar Letsche

Ansprache als Vertreter der VVN-BdA

bei der Kundgebung zum Antikriegstag

am 01.09.2020 auf dem Tübinger Holzmarkt

Aus Zeitgründen wurde dieser vorbereitete Redebeitrag in verkürzter Form gehalten.

Vor 81 Jahren morgens ab 5:45 wurde, wie es hieß, „zurück geschossen“. Die Nazis hatten ein paar Leute in polnische Uniformen gesteckt. Ihren seit langem geplanten und vorbereiteten Angriff auf Polen und ihre Annexion polnischen Gebiets und der nominell vom Völkerbund verwalteten Freien Stadt Danzig wollten sie mit der Lüge bemänteln, es habe ein Überfall auf einen deutschen Sender in der damaligen Grenzstadt Gleiwitz stattgefunden.

Es war ein durch nichts provozierter Überfall der Nazis auf Polen, für den es keinerlei Rechtfertigung gibt. Von deutschem Boden ist der Zweite Weltkrieg ausgegangen.

Für die Polen bedeutete er 6 Millionen Tote – die Hälfte davon aus der jüdischen Bevölkerungsgruppe und anderen dort lebenden Minderheiten. Heute morgen wurde auf Initiative der VVN-BdA vor der Technischen Universität Berlin ein Denkmal für die Polinnen und Polen eingeweiht, die 1945 an der Befreiung der Stadt teilgenommen haben.

Es ist aber leider Mode geworden, in der Erinnerung an den Kriegsausbruch, bei den Ursachen und Wirkungen, historische Zusammenhänge krass zu verdrehen und auszublenden.

Die damaligen Beistandszusagen Großbritanniens und Frankreichs halfen Polen nichts. Ein paar Wälder und Wiesen im Saarland wurden von den Franzosen vorübergehend besetzt, das war alles. Erst 1940, als es längst keinen polnischen Staat mehr gab, folgten den formalen Kriegserklärungen tatsächliche Kriegshandlungen an den westlichen Fronten. Beistandszusagen der Sowjetunion, an die Polen im Osten grenzte, wollte die polnische Regierung 1939 nicht haben. Wie sie sich zuvor Hitler angedient, 1938 nach dem schändlichen „Münchner Abkommen“ an der Zerstückelung der Tschechoslowakei beteiligt hatte – Vergleichbares gilt auch für die damalige ungarische Regierung – das ist leider sehr peinlich. Den russischen Präsidenten zu beschimpfen, wenn er aus gegebenem Anlass entsprechende Dokumente aus dem Archiv präsentiert, ändert daran nichts.

Tragisch ist, wie die herrschenden Kreise Großbritanniens und Frankreich damals eine Anti-Hitler-Koalition hintertrieben haben, wie die Sowjetunion sie vorschlug. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, durch Arrangements mit Hitler den Raubtierappetit der Nazis gegen die Sowjetunion, gegen den ihnen verhassten Kommunismus, lenken zu können.

Dass die sowjetische Führung erkannte, dass im August 1939 alle Alternativen ausgereizt waren und dass sie mit dem ergebnislosen Hinziehen höchst wichtiger Verhandlungen in eine Falle gelockt werden sollte, dass sie dann die Notbremse zog und dass dann am 23. August 1939 von den Außenministern Ribbentrop und Molotow ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag – nicht von Hitler und Stalin, wie es manchmal heißt, und auch kein „Pakt“ – unterzeichnet wurde, den die Nazis vorgeschlagen hatten – das haben manche Zeitgenossen damals nicht verstanden, wie man auch der antifaschistischen Memoirenliteratur entnehmen kann. Wir können es aber heute gut verstehen.

Bei unserer europazentrierten Sichtweise vergessen wir manchmal, dass auch im Osten die Sowjetunion an ein Land grenzte, dessen herrschende Militaristen schon lange auf die Gelegenheit warteten, dort einzumarschieren und sich die Schätze Sibiriens anzueignen. Japan hatte bereits 1910 Korea annektiert und besaß schon dadurch auf dem eurasischen Kontinent eine Landgrenze zum Russischen Reich. 1931 besetzte die japanische Kwangtung-Armee, die relativ eigenständig von der japanischen Regierung agierte, auch noch den Nordosten Chinas, die tief in die Sowjetunion hinein ragende Mandschurei, was die Landgrenze auf über 3600 km vergrößerte. Dazu kam die Grenze zur Mongolischen Volksrepublik, die mit der Sowjetunion durch einen militärischen Beistandsvertrag verbunden war. Das kaiserliche Japan hatte 1936 mit Nazideutschland den sogenannten Antikominternpakt abgeschlossen, der sich in Wirklichkeit gegen die Sowjetunion richtete.

Zwischen dem 29. Juli und 11. August 1938 – also zeitlich genau zwischen dem „Anschluss“ Österreich an Nazideutschland und der Auslieferung der Tschechoslowakei an Hitler – versuchte die japanische Armee am Chasansee südwestlich von Wladiwostok eine Anhöhe für ihren Marionettenstaat „Mandschukuo“ zu reklamieren und schaffte sogar einen militärischen Durchbruch, bis nach einem erfolgreichen Gegenangriff der Konflikt beigelegt wurde. Ein Jahr später im Sommer 1939, also unmittelbar in den Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in Europa, eskalierte am Fluss Chalchin Gol im Grenzgebiet zwischen der Mongolei und „Mandschukuo“ ein Grenzkonflikt, mit dem die japanischen Militärs wohl vor allem die Reaktion und die reale Stärke der sowjetischen Streitkräfte testen wollten. In den letzten Augustwochen des Jahres 1939 gelang es General Shukow – dem späteren Oberbefehlshaber der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland -, mit einem Überraschungsangriff der japanischen 6. Armee eine vernichtende Niederlage beizubringen.

Der Ausgang dieser Schlacht sorgte dafür, schreibt sogar die Wikipedia, der man sonst nicht unbedingt vertrauen muss, dass 1941 „Japan nicht die Sowjetunion angriff, um das verbündete Deutsche Reich zu unterstützen, so wie es Adolf Hitler … eigentlich erwartet hatte.“ Japan hielt sich tatsächlich an den Neutralitätspakt, den es am 13. April 1941 mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte – trotz des am 27. September 1940 zwischen Deutschland, Italien und Japan geschlossenen Dreimächtepakts, der sogenannten Achse Berlin-Rom-Tokio.

Die japanischen Militaristen hatten sich im Herbst 1939 eben die Finger verbrannt. Es war nur eine Atempause gewesen – eine für die Stärkung ihrer Verteidigungskraft dringend nötige Atempause – die die Sowjetunion durch den Nichtangriffsvertrag im Westen im August 1939 gewann. Am 22. Juni 1941 zerrissen ihn die Nazis, wie sie alle vorherigen Verträge zerrissen hatten, und überfielen auch die Sowjetunion. In breiter Front natürlich auch dort, wo heute die Grenze zwischen Polen und Belarus und der Ukraine verläuft.

Jetzt kam die Anti-Hitler-Koalition endlich zustande, Churchill wurde zum Kriegsverbündeten Stalins. Nach dem Überfall der Japaner am 7. Dezember 1941 traten auch die USA in den Krieg ein – zwei Tage nach Beginn der Gegenoffensive der sowjetischen Truppen vor Moskau, in der die aus dem Fernen Osten herangeführten Truppenteile eine entscheidende Rolle spielten.

Aber noch im Sommer 1941 hatte der britische Botschafter in Moskau, der Labour-Politiker Stafford Cripps, die Ansicht vertreten, innerhalb von drei Monaten werde die Sowjetunion zusammenbrechen, „wie ein heißes Messer durch Butter wird die deutsche Wehrmacht durch Russland ziehen“. Er hat sich genau so verkalkuliert wie Hitler und seine Wehrmacht und wie vorher die japanische Armee.

Wir Nachgeborenen wissen, wie es ausgegangen ist. Mit riesigen Opfern – 27 Millionen Toten – leistete die Sowjetunion den wesentlichen Beitrag zur Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus. Mit Schutt und Asche ging das Deutsche Reich unter. Nach dem Sturm auf Berlin wehte über dem Reichstag die Fahne der Roten Armee. „Ohne  Stalingrad kein Grundgesetz“, für diese Erkenntnis wurde der 1982 verstorbene Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz bekannt, der als gebürtiger Jude dem christlichen Widerstand gegen die Nazis nahe stand, nach England hatte emigrieren müssen. Er war klüger als so manche Abgeordneten im EU-Parlament.

Als im August 1945 Japan militärisch schon am Boden lag, zwei Tage nach dem Atombombenabwurf der USA, erklärte – wie in der Antihitlerkoalition vereinbart – auch die Sowjetunion Japan den Krieg und befreite den Norden Chinas und Koreas. Die Atombomben der USA, deren Geheimnis streng gehütet worden war, waren militärisch sinnlos und richteten fürchterlichste Verheerungen in Hiroshima und Nagasaki an. Aber die Demonstration richtete sich eigentlich gegen den Kriegsverbündeten, die Sowjetunion, der gezeigt werden sollte: ab jetzt bestimmen wir die Weltpolitik. 1949 hatte allerdings auch die Sowjetunion die Atombombe, heute haben neun Staaten der Welt sie, und es herrscht das fürchterliche „Gleichgewicht des Schreckens“.

Die deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten waren sich immer einig, Hitler und der Faschismus – auch der in anderen Ländern – das bedeutet Krieg, und der Kampf muss immer auch um die Erhaltung des Friedens geführt werden. Die Vereinten Nationen, die Säulen des Völkerrechts, die 1945 errichtet und bestätigt wurden – die mühsam ausgehandelten internationalen Vereinbarungen einschließlich der Rüstungsbegrenzungsverträge – das muss die Grundlage sein und bleiben, auf der die internationalen Beziehungen gestaltet werden.

Wir brauchen nur die Zeitung aufzuschlagen, um daran erinnert zu werden, wie unbekümmert und schamlos und in allen möglichen Formen und an wie vielen Enden der Welt Kriege angezettelt und geführt, menschliche Katastrophen produziert, und – das ist mir hier wichtig – Lehren des Zweiten Weltkriegs in den Wind geschlagen werden. Von den Lehren einer Pandemie, die vor keinen Grenzen haltmacht, ganz zu schweigen.

Die damaligen beiden deutschen Staaten haben sich 1990 völkerrechtlich verpflichtet, dass von deutschem Boden nie mehr ein Krieg ausgeht.

  • Darum haben Atomwaffen in diesem Land nichts verloren und wo sie heute noch lagern, gehören sie weg. Dem Atomwaffenverbotsvertrag muss endlich auch Deutschland beitreten.
  • Abrüsten – das ist die Richtung, in die es laufen muss – nicht irgendeine Prozentzahl für die Rüstungsausgaben!
  • Wenn gegen Russland und auch gegen China mit dem Säbel gerasselt wird, auch wenn er als Wirtschaftskrieg, Sanktionen und Manöver daher kommt, dann steht die deutsche Außenpolitik in besonderer Weise in der Pflicht gegenzusteuern.
  • Deutsche Vormachts- und Bevormundungsansprüche haben in der heutigen Welt nichts verloren. Jede Einmischung, auch in Belarus, hat zu unterbleiben.
  • Wir brauchen keine Kriegslügen in den Medien, keine psychologische Einstimmung auf künftige Kriege, sondern Aufklärung über die Kriegstreiber und ihre Machenschaften.
  • Rüstung tötet – auch die in alle Welt gelieferten Produkte der deutschen Rüstungsindustrie töten.
  • Und wir brauchen keine Kriegs- und Rüstungsforschung . weder in Tübingen noch anderswo.

Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass an den Infoständen eine Erklärung des Bundessprecherkreises der VVN-BdA zu den Vorgängen am Wochenende in Berlin ausliegt. Ich zitiere nur einen Satz:

Es spielt keine Rolle, ob alle Corona-Protestler Faschisten sind oder nicht, denn die vollkommene Distanzlosigkeit zu Faschisten, Antisemiten, Rassisten und anderen Menschenfeinden ist das eigentliche Problem.

Danke für eure Aufmerksamkeit.