Offener Brief an die Fraktionen des Tübinger Gemeinderats

18. Mai 2021

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Tübingen


18.5.2021


Offener Brief an die Fraktionen des Tübinger Gemeinderats
Für ein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus in der Tübinger Güterbahnhofshalle


Sehr geehrte Damen und Herren,

wir bitten Sie, sich bei den Beratungen zur weiteren Nutzung der Güterhalle für die Realisierung eines Lern- und Dokumentationszentrums zum Nationalsozialismus an diesem historischen Ort einzusetzen.
Das Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus (LDNS) in der Güterbahnhofshalle um den Splitter- und Überwachungsstand herum sollte kommen, das schien einige Zeit relativ sicher zu sein, auch wenn die Art der Realisierung umstritten war. Der Fachbereich Kultur und die Bauverwaltung hatten etwa 200 qm für Ausstellungen und Räume vorgesehen, der Verein für ein LDNS hielt etwa 300 qm oder mehr für erforderlich. 300.00 EUR waren bereits im Haushalt der Stadt für das LDNS vorgesehen.
Es wurde viel diskutiert. Dabei setzte sich die Auffassung durch, das Stadtarchiv und LDNS seien eine gute Kombination und beide Einrichtungen ergänzten sich ideal. Als sich herausstellte, dass die Güterhalle für eine Archivnutzung nicht ertüchtigt werden und das Stadtarchiv nicht einziehen kann, nahm die Kulturverwaltung allmählich Abstand vom vorgesehenen LDNS, nun mit der Begründung, ohne das Stadtarchiv sei ein LDNS nicht sinnvoll. Für die Aktiven und die Unterstützer:innen des LDNS war dieser Gesichtspunkt allerdings nie ausschlaggebend, da die an der Recherchearbeit des LDNS Beteiligten schon lange auch ohne räumliche Nähe nicht nur im Stadtarchiv, sondern auch in vielen weiteren Archiven aktiv sind, die inzwischen viele Archivalien auch online anbieten.
Am 29.03.2021 brachte nun Frau Waizenegger, die Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur, in den Gremien des Gemeinderats eine Vorlage zur Tübinger NS-Erinnerungskultur ein, in der sie apodiktisch mitteilt, dass „die Verwaltung es nicht mehr als sinnvoll [ansieht], in der Güterhalle ein solches Lernzentrum einzurichten.“ Eine derartige Weichenstellung hätte dann auch Konsequenzen für die zu planenden Baumaßnahmen.
Neben allerlei befremdlichen Aussagen und etlichen negativen Bewertungen der Arbeit der bürgerschaftlichen Erinnerungsinitiativen vertritt sie die These, ein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus (LDNS), insbesondere zur Geschichte der Zwangsarbeit, entspräche nicht der tatsächlichen Rolle Tübingens während der NS-Zeit. Darüber hinaus sei die Universität Tübingen „der eigentliche ‚Hauptakteur‘ der NS-Zeit mit großer Ausstrahlung weit über die Stadt hinaus“ gewesen. – Sicher hat gerade die Universität Tübingen besonders viele NS-Ideologen und NS-Täter hervorgebracht, aber die NS-Gewaltverbrechen wurden von den lokalen und überregionalen NS-Akteuren, den NS-Organisationen, den NS-Behörden und Ministerien geplant und begangen, und nicht von der Tübinger Universität. Und so wurden auch Kriegsgefangene und andere
Zwangsarbeiter:innen in einem Zusammenspiel von zentralen und lokalen Instanzen des NS-Staates in Tübingen eingesetzt und ausgebeutet. Die Rolle der Zwangsarbeit und die Rolle der lokalen NS-Instanzen wird mit derartiger Argumentation heruntergespielt und der Ball für ein LDNS an die Universität weitergereicht. Unbedeutend waren die städtischen Größen in der NS-Zeit nicht. Ernst Weinmann (1907-1947), der letzte Bürgermeister der Stadt Tübingen in der NS-Zeit beispielsweise, war mitverantwortlich und aktiv beteiligt an einer Reihe von „rassenpolitisch“ begründeten Kriegsverbrechen der deutschen Besatzer in Serbien, was ihm den Beinamen „Henker von Belgrad“ einbrachte.1 Die Stadtverwaltung funktionierte auch in der Zeit seiner Abwesenheit im Sinne des NS-Staates.
Wir sind der Meinung, die Region Tübingen braucht ein LDNS in der Güterhalle, das auch von der Universität Tübingen im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch wissenschaftliche Expertise oder auf andere Weise unterstützt werden sollte.
Die Zwangsarbeit war überhaupt das öffentlichste Verbrechen der Nationalsozialisten im damaligen Staat. Gerade die Güterhalle mit ihrem Überwachungsstand und mit ihrer scheinbaren Unscheinbarkeit zeigt deutlich, wie wichtig es ist, solche Orte zu erhalten, zugänglich zu machen und zu erklären, was hier geschehen ist und warum. Hier ist das Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus – auch als Lernort zur Festigung der Demokratie – an der richtigen Stelle.
Hier kann historisch-politische Bildung am authentischen Ort für die Demokratieförderung nutzbar gemacht werden. Alten und ‚neuen‘ Rechten, Rassismus und Antisemitismus, muss rechtzeitig entgegen getreten werden. Deshalb gilt es, demokratische Initiativen gegen neue Gefahren wirksam zu stärken. Dazu kann ein Tübinger Lern- und Dokumentationszentrum zum NS in der Tübinger Güterbahnhofshalle einen wichtigen Beitrag leisten.
Als Organisation, die von Verfolgten und Überlebenden des deutschen Faschismus gegründet wurde und seit Beginn ihren Schwerpunkt in der Gedenkarbeit hat, wissen wir von der Bedeutung historischer Orte für die Erinnerungsarbeit. Wir hoffen sehr, dass diese Überlegungen bei den Beratungen zur Güterbahnhofshalle Berücksichtigung finden und danken Ihnen für Ihre Unterstützung bei der weiteren Realisierung des Lern- und Dokumentationszentrums zum Nationalsozialismus.

Mit freundlichen Grüßen
Gisela Kehrer-Bleicher

Für den Vorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Tübingen


1 Groß; Schmidt; Uhlendahl (2020): Ernst Weinmann – Der „Henker von Belgrad“. In: zm 110, 16.06.2020, (12), S. 1236–1238.
Anhang:
Dokumentation eines Textes des Vereins (für ein) Lern- und Dokumentationszentrum:
Die Güterhalle mit dem Überwachungsstand ist ein authentischer Ort der Zwangsarbeit unter dem Nationalsozialismus
Grundlage ist die Vorlage von Stadtarchivar Udo Rauch zur Anerkennung der Denkmaleigenschaft gemäß § 2 DSchG durch das Regierungspräsidium 2010, ergänzt um die Einordnung in den größeren historischen Zusammenhang durch Hans Otto Binder.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde Hermann Göring Reichskommissar für die Luftfahrt. Am 04.07.35 wurde das Luftschutzgesetz für Frieden und Krieg erlassen. Für die Kriegsvorbereitung war der Schutz vor Luftangriffen, besonders von Bahnanlagen, von großer Bedeutung. 1936 folgte eine Richtlinie über Maßnahmen zum Schutz der Bahnanlagen gegen Angriffe aus der Luft. „Für die Notbelegschaft, die während eines Fliegerangriffs unbedingt an wichtigen Plätzen im Betrieb zur Beobachtung von Maschinen, Messständen oder anderen Einrichtungen ausharren mussten, wurden splittersichere Schutzstände geschaffen, aus denen eine einwandfreie Beobachtung und ein Zugriff in die Arbeitsvorgänge möglich wurde“ (Erich Hampe: Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg. 1963 S. 14). Mit dem Einbau der Brandschutzmauer wurde auch im Tübinger Güterbahnhof ein solcher Schutzstand geschaffen. An den Einsatz von Kriegsgefangenen hat man damals noch nicht gedacht. Das Be- und Entladen erfolgte in der Regel durch die Firmen selbst.
Der Einsatz von Kriegsgefangenen wurde durch Göring veranlasst. Am 06.07.1942 ordnete er die Bildung von Entladekolonnen an zur Beschleunigung des Vorgangs und damit der schnelleren Wiederverwendung des rollenden Eisenbahnmaterials. Bis dahin wurden Entladekolonnen aus den Kriegsgefangenen der Unternehmen gebildet. Zahlreiche Tübinger Betriebe waren mit der Produktion von wichtigen Rüstungsgütern beschäftigt, darunter ausgelagerte Betriebsteile von Mercedes, das Himmelwerk und das Montanwerk. Die Stadtverwaltung Tübingen forderte 20 „Zivilrussen“ an und bekam dann sogar 30, aber keine „Zivilrussen“. In einer Sitzung am 14.09.42 wurde dem Tübinger Gemeinderat „über die Einrichtung der von Reichsmarschall Göring befohlenen Entladekolonnen in Tübingen“ berichtet, „nach langen und schwierigen Verhandlungen sei es gelungen, eine Entladekolonne bestehend aus 30 sowj. russ. Kriegsgefangenen, hierher nach Tübingen zu bekommen“. Die kamen mit 3 Wachmannschaften aus dem Stalag V b (Villingen und wurden im nahegelegenen Sidler-Lager untergebracht. Es war das Arbeitskommando 63701. Auf 10 Gefangene sollte ein „gut bewaffneter“ Wachmann kommen. Die Arbeiten hatten bei Tag und Nacht ohne Unterbrechung durch Sonn- und Feiertage zu erfolgen. In einem „Merkblatt für die Bewachung der russischen Kriegsgefangenen“ des Kommandeurs der Kriegsgefangenen vom 01.09.1942 heißt es, dass deren Bewachung „angesichts der Heimtücke und politischen Einstellung… eine besondere Sorgfalt und Strenge“ verlange. Sie dürften „nur in grösseren, geschlossenen Gruppen zum Einsatz kommen“. … „Die Arbeitsgruppen müssen ständig unter der Aufsicht von mindestens 2 Wachmännern stehen. Die Wachmänner haben ihre Aufstellung so zu wählen, dass sie die Gefangenen, wenn möglich aus überhöhtem Standpunkt, stets im Auge haben. Beim geringsten Versuch tätlichen Widerstandes ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“ Der Beobachtungsstand in der Güterhalle erfüllt diese Vorgaben mit seinen schießschartenförmigen Sichtschlitzen exakt.