Gegen das Vergessen!

21. November 2021

Die VVN-BdA Tübingen-Mössingen beteiligte sich an der Gedenkveranstalltung der Reutlinger VVN-BdA

Die Toten mahnen die Lebenden:

Gegen das Vergessen!

Gedenktag 2021 gegen Neonazismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Krieg!

am Totensonntag, 21. November 2021, 10:00 Uhr,

vor dem Mahnmal Friedhof Unter den Linden, Reutlingen.

Gedenkredner:       Moritz Stiepert, Regionssekretär Deutscher Gewerkschaftsbund DGB

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Vielen Dank, dass ihr alle zahlreich erschienen seid! Vielen Dank für die Einladung als Gedenkredner!

Der Totensonntag dient in der evangelischen Kirche als Gedenktag für die Verstorbenen. Er liegt am letzten Sonntag des Kirchenkalenders, also am letzten Sonntag vor dem 1. Advent. Für antifaschistische Organisationen wie die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ ist es ein Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Daher befinden wir uns heute hier auf dem Friedhof Unter den Linden am Mahnmal.

„Man muss den Leuten anscheinend immer noch beibringen, dass jeder Mensch ein Mensch ist.“, sagte Esther Bejarano, das langjährige Mitglied des VVN-BdA, die uns leider in diesem Jahr verlassen hat. Auch dieser Frau sollten wir heute gedenken. Esther war vor drei Jahren noch auf Tournee mit der Microphon Mafia und hat dabei auch Reutlingen besucht. Eine stete Kämpferin gegen Rechtsextremismus in Deutschland. Dafür sollten wir ihr dankbar sein und so sollten wir an sie gedenken!

Ich möchte auch daran erinnern, dass der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten“ 2019 noch die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. Sie wurde zum Glück wiedererlangt, es passt jedoch in eine Zeit, in der rechtsextreme mit immer mehr Grenzverletzungen und (Gewalt)Taten durchkommen und gleichzeitig immer mehr Antifaschist*innen vor Gericht landen und hier in teilweise abenteuerlichen Indizienprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Auch im Fall der angeblichen Linksterroristin Lina fallen nun die ersten Anklagepunkte in sich zusammen. Ich kann nur sagen: Antifaschismus ist kein Verbrechen!

Zudem möchte ich meine Solidarität mit der Zelle und Rosa bekunden, die im letzten Jahr durch Brandanschläge immer wieder in Gefahr gebracht und bedroht wurden. Wir können nur hoffen, dass die Angeklagten aus rechten Kreisen, ihre gerechte Strafe bekommen und wir bekunden hier unsere Solidarität mit der Zelle und Rosa. Ihre Jugendarbeit ist wichtig! Sie ist wichtig gegen rechts und Reutlingen wäre deutlich grauer und trister ohne solche Gruppierungen in der Stadt.

Ich möchte daran erinnern, dass die Totensonntagstradition in Reutlingen auf den ehemaligen Bürgermeister Fritz Wandel, der Bürgermeister unter Oskar Kalbfell war, zurückgeht. Fritz Wandel war KPD Mitglied, 3. Stellvertreter unter Oskar Kalbfell und als Leiter des Wohnungsamtes der Stadt Reutlingen maßgeblich am Wiederaufbau der Stadt beteiligt. Er hatte gemeinsam mit Kalbfell Reutlingen vor einer größeren Zerstörung durch die Franzosen bewahrt und auch nach dem Krieg 1947 den VVN-BdA in Reutlingen begründet. Nächstes Jahr steht also der 75. Geburtstag an!

Dieses Jahr bietet viele Gelegenheiten und wichtige Themen, die mensch mit dem Totensonntag in Verbindung bringen könnte. Der gewaltsame Sturm auf das Kapitol in Washington, welcher durch den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Trump ausgelöst wurde, der viele Menschenleben gekostet hat und auch weiterhin die Bevölkerung der USA spaltet. Die älteste Demokratie der Welt ist in Gefahr!

Oder der gescheiterte Afghanistanfeldzug, der in diesem Jahr beendet wurde. Wir sahen Menschen im Fernsehen, die sich aus Angst vor der Taliban an Flugzeuge gehangen haben und beim Start auf die Landebahn fielen. Frauen müssen nun wieder Angst davor haben, dass sie nicht zur Schule gehen können und auch sonst keine Rechte im öffentlichen Leben haben.

Während am anderen Ende der Welt Menschen Angst um ihr Leben haben, haben Menschen in Deutschland Angst vor einer Impfung. Ältere Menschen, mit Wohlstandsbauch, Fleecejacke, Treckingschuhen, einem „Ich bin leider nur gesund“ Button am Rucksack und einem „umarmbar“ Schild in der Hand, bevölkern wochenends die Innenstädte und liefern sich Keilereien mit der Bereitschaftspolizei; dafür wäre die Antifa sicher langjährig im Knast gelandet.

Aber das alles ist bereits weitreichend kommentiert und auch gut beschrieben worden. Daher möchte ich heute ein anderes aktuelles Thema ansprechen:

„Man muss den Leuten anscheinend immer noch beibringen, dass jeder Mensch ein Mensch ist.“, hat Esther Bejarano gesagt.

Ich möchte mich heute mit einem „Krieg“ vor unserer Haustür beschäftigen. Krieg, so nennen es jedenfalls einige Zeitungen. Einem Krieg, bei dem mensch sich noch unschlüssig ist, ob er nun zwischen Weißrussland und Europa, zwischen Russland und Europa oder doch nur zwischen Russland und Deutschland stattfindet. Einem Krieg, der wie jeder Krieg auf dem Rücken der Schwächsten der Gesellschaft ausgetragen wird. Es wird in den Medien Krieg genannt, weil wir angeblich Angst vor Menschen haben. Und somit Menschen hier als Waffe dienen! Ich rede von der Situation an der polnisch/belarusischen Grenze.

Ich rede von Menschen, die von der einen Polizei ins andere Land gejagt wurden, nur um dann im anderen Land von der anderen Polizei verfolgt zu werden.

Und warum dienen hier Menschen als Waffen? Naja, nur weil Lukaschenko und Putin verstanden haben, dass Europa vor nichts mehr Angst hat als vor Geflüchteten.

Es gibt also kein Schwarz und Weiß in dieser Geschichte.

Auch auf der Seite von Russland und Belarus gibt es nicht nur das pure Böse. Putin ist kein Demokrat, aber er hat auch ein gebeuteltes Riesenreich, nach dem Chaos unter Gorbatschow und Jelzin wieder beruhigt.

Lukaschenko ist ein Autokrat, ekelhafter Rassist, Hitlerverehrer und Antisemit, aber wir werden das Problem Lukaschenko nicht an der polnischen/belarussischen Grenze lösen können. Dann tragen wir unseren Konflikt nur auf dem Rücken der Geflüchteten aus.

Aber warum diese Angst vor geflüchteten Menschen?

Zwischen 2015 und 2017 kamen ungefähr 2,6 Millionen Schutzsuchende nach Deutschland. Das hat innerhalb der Gesellschaft zu enormen Diskussionen geführt. Grundsätzlich stellt das eine Gesellschaft sicherlich vor Probleme. Es braucht Unterkünfte, neue Schulformen, Arbeits- und Ausbildungsplätze, Lehrer*innen für den Deutsch als Fremdsprache Unterricht usw. usf. Natürlich bedarf eine solche hohe Zahl an Migranten eine Kraftanstrengung einer Gesellschaft. Und natürlich müssen wir über das „Wie“ von Migration diskutieren können.

Doch zuletzt wurden Bilder in Social Media Kanälen geteilt, die uns nur mit Schrecken zurücklassen können. Familien liegen bei dieser Kälte und Nässe im Wald, vor ihnen die polnische, hinter ihnen die weißrussische Polizei. Hundert(e) Menschen stehen somit an einem Grenzposten – eingeschlossen von bewaffneten Polizist*innen. Ich möchte gar nicht sagen, dass ich hier heute einen Vorschlag machen könnte, wie dieser Konflikt zu lösen ist, aber von Europa, dem einzigen Kontinent mit Friedensnobelpreis und mit – immer wieder hervorgehobenen – Werten, sollten wir ein anderes Vorgehen erwarten können. Nicht abschotten, sondern konkrete Hilfen und gegebenenfalls die Aufnahme der Geflüchteten sind dabei das Mindeste, was wir leisten können.

Grundsätzlich sollten wir vor Migration keine Angst haben. Ich denke, wir haben die Migrationswellen 2015/17, aber auch in den 60ern und 90ern gut aufgefangen und bei allen Problemen geschafft! Die Hälfte derjenigen, die 2015/17 zu uns gekommen sind, ist heute in Arbeit und davon wiederum die Hälfte als Facharbeiter angestellt. 21% der Menschen im schulpflichtigen Alter besuchen ein Gymnasium, oder haben eines besucht. Wir müssen uns dabei auch weiterhin dafür einsetzen, dass Menschen im Schulsystem und an der Arbeit nicht diskriminiert werden.

Denn Deutschland hat demographisch betrachtet nach Japan die zweitälteste Bevölkerung der Erde. 2015-2017 war der letzte und einzige Zeitraum, in dem Deutschland gewachsen ist und etwas jünger wurde. Wir brauchen daher dringend Migration!

Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, sprach zuletzt von einer netto Zuwanderung von 400 000 Menschen pro Jahr, die es bräuchte, um die in die Rente gehenden Jahrgänge in den nächsten Jahren aufzufangen. Anders sei unser Wohlstand nicht mehr abzusichern.

Deutschland hat derzeit 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind ca. 25 % der Einwohner*innen dieses Landes. Wenn ich die Zahlen richtig gelesen habe, dann liegt Reutlingen mit einer Quote von 26 % da genau im Schnitt. Doch trotz aller Schlagzeilen der Bild-Zeitung, trotz Boris Palmer, trotz Thilo Sarrazins Büchern und trotz aufgebrachten Wutbürger*innen, können wir doch sagen, dass wir in einem der sichersten Länder der Welt leben. Die Integration der zu uns kommenden Menschen ist als Erfolgsgeschichte zu verstehen. Am 30. Oktober konnten wir 60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei feiern. Ein Tag, der mir persönlich zu wenig gefeiert wurde. Was wäre Deutschland ohne unsere türkischstämmigen Kolleg*innen in den Betrieben, als Vertrauensfrauen und -männer und Betriebsrät*innen. Das trifft natürlich auch auf andere Migrationsgruppen zu, wie den Menschen aus Russland und Ex-Jugoslawien Anfang der 90er, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen.

Migration ist kein modernes Phänomen, schon Cäsar schrieb im De bello Gallico über umherziehende Bevölkerungsgruppen. Wir sind uns sicher: In der Moderne wird Migration sogar noch zunehmen. Nein, Deutschland muss nicht für alle die Heimat werden, aber auch nicht alle kommen nach Deutschland weil sie wollen, sondern weil sie müssen. Wir sollten unserer Pflicht als Menschen nachkommen, ein bisschen etwas von unserem enormen Reichtum in Deutschland mit dem Rest der Welt teilen und die Menschen, die Zuflucht suchen, hier aufnehmen.

„Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tost to me,
I lift my lamp beside the golden door!“ So geht es im Sonnett The New Colossus von Emma Lazarus, das an der Freiheitstatue prangt und ich finde, das wäre auch kein schlechtes Motto für Deutschland.

Diese Freiheitsstatue und dieses Gedicht haben viele auf Ihrer Flucht vor dem Faschismus als Zeichen der Freiheit sehen können, wenn sie mit dem Boot in Amerika angelegt haben. Denn eins sollten wir uns immer vor Augen führen. Von Deutschland ging während der NS-Zeit Gewalt und Vernichtung aus und somit auch eine der größten Flucht- und Migrationsbewegungen der Moderne.

Viele hatten die Möglichkeiten in Skandinavien, den USA oder Israel unterzukommen, aber vielen wurde auch die rettende Aufnahme verweigert und sie starben auf der Flucht.

Europa und insbesondere Deutschland hat daher die historische Pflicht an seinen Außengrenzen und auf dem Mittelmeer Migration human zu gestalten. Es hat ebenso aus ökonomischem Interesse die Pflicht Migranten aufzunehmen. Was spricht also dagegen, eine humane Lösung der Migrationsfrage an den Außengrenzen vorzunehmen? Wir brauchen keine Abschottung! Europa darf nicht die Gated Community der Erde werden! Wir brauchen Aufnahme, Bildung, Ausbildung, Arbeit und Integration.

Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und freue mich auf die weiteren Grußworte und Reden!

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